Der Maler Gottes
mein schnelles Ende, für ein Ende der Qualen und Schmerzen.«
Matthias steht noch immer wie erstarrt. Er bemerkt nicht einmal den Schweiß, der ihm auf der Oberlippe steht. Guido Guersi steht hinter ihm, hält ihn am Arm und sagt: »Schaut sie Euch gut an, diese Elenden. Ihre entstellten Körper werden von glühender Hitze, eisiger Kälte und qualvollen Krämpfen geschüttelt. Doch auch sie sind Gottes Geschöpfe. Vergesst das nie.« Ein Pfleger kommt den Gang entlang. Er sieht den Kranken am Boden, tupft ihm mit einem Tuch die Stirn, redet beruhigend auf ihn ein: »Leonhardt, Ihr müsst zurück in den Krankensaal. Ich helfe Euch auf.« Der Pfleger, ein Antonitermönch, fasst den Kranken am Arm und will ihn hochziehen, doch der Kranke stößt solch gellende, hohe Klagelaute aus, dass Matthias sich zusammenkrümmt, als er sie hört.
Der Pfleger sieht zu ihm hoch. »Kommt, fasst mit an. Alleine schaffe ich es nicht.«
Hilfe suchend schaut Matthias zu Guersi. »Ja, mein Sohn, fasst mit an. Die Krankheit ist nicht ansteckend. Helft dem armen Leonhardt.«
Widerstrebend zieht Matthias den Kranken mithilfe des Pflegers auf die Füße. Der Körper des Mannes ist so ausgemergelt, dass er nicht mehr zu wiegen scheint als eine Strohpuppe. Mühelos nimmt Matthias den Mann auf die Arme, muss sich nicht den Weg zum Krankensaal zeigen lassen, er geht einfach den Schreien nach und befindet sich plötzlich in einem hohen Raum. Eine Bettstatt steht dicht neben der anderen, auf jedem freien Fleck ist Stroh aufgeschüttet. Die Kranken liegen zu dritt und zu viert nebeneinander, so beengt, dass jede Bewegung unmöglich ist. Die Pfleger laufen hin und her, bieten dort einen Schluck Wasser, da einen Löffel Suppe, spenden Trost, beten. Mehr können auch sie nicht für die Kranken tun. Sobald ein Kranker in einem Bett stirbt, nehmen die Mönche ihn heraus, schütten neues Stroh über die Stelle und legen schon den nächsten hinein. Für Leonhardt findet sich nur noch ein Plätzchen auf dem Boden. Matthias und der Pfleger legen ihn auf einer alten Pferdedecke ab, dann flieht der junge Maler beinahe aus dem Saal. Draußen wartet der Präzeptor auf ihn. »Na, mein Sohn, wollt Ihr noch immer die Schreinsfiguren für unseren Altar schnitzen?«, fragt er. Matthias schluckt. Weglaufen möchte er und diesen Ort am liebsten nie mehr betreten. Und doch hält ihn irgendetwas hier fest, hindert ihn, dem Präzeptor eine Absage zu erteilen. Matthias weiß, dass er hier bleiben und den Altar schnitzen muss, er fühlt es deutlich, doch er weiß nicht, warum das so ist. Demut senkt sich in sein Herz, Ergebenheit vor dem Leid der Kranken, vor der pflegenden Hingabe der Antoniter, vor allem aber Demut und Ergebenheit vor der Güte und Weisheit des Präzeptors. »Ich werde mein Bestes geben«, sagt Matthias, und seine Stimme klingt vor Ehrfurcht und Bescheidenheit ganz dünn.
»Ich weiß, mein Sohn«, erwidert der Präzeptor und scheint durch Matthias’ Augen hindurch auf den Grund seines Herzens zu blicken. Spürt Guersi, wie sehr Matthias ihm zugeneigt ist? Ja, es scheint, als empfinde auch der Präzeptor eine gewisse Nähe zu dem scheuen Maler. Es ist ein Zeichen der Sympathie, dass der Ältere den Jungen plötzlich duzt. »Ich weiß, mein Sohn. Ich heiße dich willkommen in Isenheim. Möge Gott es dir zu einem Zuhause werden lassen. Ein Zuhause auf Zeit oder auf Ewigkeit.«
Niklas von Hagenau ist ein schweigsamer, ausgezehrter Mann, der nicht nur mit Worten, sondern auch mit Bewegungen sehr sparsam umgeht. Seit einigen Jahren schon arbeitet er an dem Altar, seine Kraft ist fast verbraucht. Müde und erschöpft ist er, graugesichtig, hohlwangig. Er ist froh, in Matthias einen Bildschnitzer seines Ranges gefunden zu haben, denn trotz der vielen Gehilfen braucht die Arbeit einen handwerklichen Geist, der organisiert, ergänzt, anweist. Hagenau allein schafft es nicht mehr. Und obwohl Matthias noch fremd ist in Isenheim, fremd in diesem Siechenhospital, schnitzt er an den Figuren, als entsprächen sie einem Plan, der lange und geruhsam in seinem Inneren gereift ist. Hagenaus fertige Statuen sind ihm auf Anhieb so vertraut, als hätte er sie selbst geschnitzt.
Tagsüber arbeitet Matthias Seite an Seite mit dem schweigsamen Mann, schnitzt eine Predellafigur nach der anderen – Christus und die Apostel –, lässt sich immer wieder von der Kunstfertigkeit der bereits fertigen mannshohen Statuen der Heiligen Antonius, Augustinus und Hieronymus bezaubern.
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