Der Maler Gottes
Vater. Erklärt mir, was Ihr meint«, drängt Matthias, spürt dabei an der Reaktion seines Körpers – schneller Herzschlag, rasender Puls –, dass ihm Guersi etwas Existenzielles mitzuteilen versucht, etwas, das Matthias’ Innerstes berührt, ihm aber dennoch verschlossen ist.
»Erklärt mir, was Ihr meint«, bittet er fast flehentlich und sieht den Alten mit so heißen Augen an, dass dieser schließlich seufzt und nach Worten sucht: »Gott wählt unter den Menschen einen unter vielen, die Last einer Idee zu tragen. Und wie der Holzblock dem Geißfuß widersteht, so bäumt sich der Mensch auf und schreit: ›Warum ich? Warum soll ich das Schicksal tragen, das mich von den anderen unterscheidet, mich fremd und einsam macht unter ihnen?‹«
Matthias nickt und kann nicht verhindern, dass ihm Tränen in die Augen treten. »Ich weiß, was Ihr meint, Vater, ich kann es spüren. Eure Worte gehen mir durch Mark und Bein, lassen das Blut schneller fließen, das Herz rascher schlagen. Berufen bin ich, ich weiß es schon lange, aber bin ich auch auserwählt, diese Idee zu tragen, in die Welt zu bringen?« Guersi zuckt die Schultern: »Ich weiß es nicht, Matthias. Ich weiß nicht, ob du die Kraft hast dafür. Die Kraft, den Mut, die Stärke. Denn des Menschen innerstes Wesen ist die Auflehnung, der Widerstand gegen Gott.«
»Nein«, begehrt der junge Maler auf. »Nicht gegen Gott. Es ist ein Aufbegehren gegen die Schuld des Kreuzestodes.«
Guersi nickt. »Du magst Recht haben damit, Matthias, und du selbst weißt, dass wir nicht aus der Schuld entlassen sind, uns nicht selbst daraus entlassen können. Wo immer wir hinkommen, die Erlösungsbedürftigkeit jedes Einzelnen ist schon da. Der Mensch nach dem Kreuzigungstod erfährt sich selbst in der Gefangenheit seiner Schuld an diesem Tod, erfährt sich eben darum in der Einsamkeit seines Ichs. Eine Einsamkeit, die ihn auf ewig vom anderen trennt und ihn unfähig macht, tiefe und innige Liebe zu geben und sich schenken zu lassen. Nicht einmal von Gott.«
»Dann gibt es keine Liebe?«, fragt Matthias. »Und ohne Liebe keinen wahren Glauben?«
»Es gibt die Hoffnung«, erwidert Guersi. »Die Hoffnung und die seltenen Augenblicke der Erfüllung, des Einsseins mit sich, mit Gott, mit einem anderen Menschen. Ein jeder hofft und sehnt die Befreiung aus dem Käfig der Schuld und Ich-Einsamkeit herbei. Zum Beispiel durch die Liebe.«
Matthias schweigt eine Weile, hängt seinen Gedanken nach. Guersi lässt ihn, stört mit keinem Wort, mit keiner Geste.
Endlich hebt Matthias den Kopf, sieht den Präzeptor mit klaren Augen an und sagt fest und entschlossen: »Ich möchte die Tafeln für den Isenheimer Altar malen, Vater. Bereit bin ich, dafür in die tiefsten Untiefen meiner Seele hinabzutauchen.« Etwas leiser setzt er hinzu: »Vom ersten Augenblick meines Hierseins an habe ich gespürt, dass Isenheim ein ganz besonderer Ort für mich ist. Eine Bestimmung, ein Zuhause. Ich finde die rechten Worte nicht, und doch weiß ich eines ganz genau: Ich möchte diesen Altar malen. Nichts gibt es, was ich mehr begehre.« Guersi nickt. »Ich weiß, mein Sohn, doch es ist noch nicht so weit. Lass dir noch etwas Zeit. Diese Tafeln verlangen den ganzen Menschen, verlangen ihm alles ab. Doch dieser Mensch musst du erst noch werden.« Der Präzeptor unterbricht sich, denkt nach, schüttelt den Kopf und sagt dann: »Du musst ein Meister sein, bevor du zurück nach Isenheim kommst. Nur einem Meister kann ich einen solch großen Auftrag erteilen.« Matthias nickt, kann die Enttäuschung nicht verbergen. »Du bist auf dem Weg, Matthias«, tröstet der Präzeptor. »Doch du hast noch eine Strecke vor dir bis zum Ziel. Niemanden deines Gewerkes, deiner Kunst kenne ich, der diesem Ziel so nahe ist wie du. Die Tafeln werden auf dich warten. Das verspreche ich dir.«
12. K APITEL
Am Tag, als Matthias die letzte Figur der Predella zu Ende geschnitzt hat, kommt ein Bote nach Isenheim. Aus Mainz ist er gekommen, von der Residenz des Erzbischofs, und er hat Nachrichten für Matthias. Im Beisein Guido Guersis übergibt er die Nachricht. »Ich soll auf Antwort warten, es eilt«, berichtet der Bote. »Schon morgen früh werde ich zurückreiten.« Matthias hat nicht die leiseste Ahnung, was der Erzbischof von ihm wollen könnte. Neugierig bricht er das Siegel, entfaltet die Pergamentblätter und liest. Der Präzeptor von Isenheim beobachtet ihn dabei, sieht das Wechselspiel seiner Miene, sieht die Spannung und
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