Der Maler Gottes
Reizmann in Aschaffenburg, Heller in Frankfurt, die Schnitzereien in Isenheim, die Hofmalerstelle, wieder Frankfurt, die Hochzeit. Als Konstanten der Zweifel, die Angst, die Suche und Magdalena. Ihm wird klar, dass er nur in Isenheim und bei Magdalena je richtig glücklich war. Glücklich und in Übereinstimmung mit sich und mit Gott. Magdalena, die Zauberin. Warum nur bei ihr dieses Glück? Er sieht sie vor sich, sieht sie, wie er sie zuletzt gesehen hat. Nackt und bloß, sich ihm und dem Stift in seiner Hand hingebend. Hingebend? Ist es das? Matthias’ Herz schlägt zum Zerspringen, er hat wieder das Gefühl, auf einer Schaukel zu sitzen und beinahe den Himmel greifen zu können. Er sitzt, ringt nach Atem, spürt den schnellen, heftigen Herzschlag. Möchte gern davonlaufen, weil er nicht weiß, was mit ihm passiert. Auch neue Gedanken und Erkenntnisse bergen Gefahren, sind Fremdkörper zunächst, mit denen man den Umgang erst erlernen muss. Und wohin führen sie? Sie zwingen, vertraute Bahnen zu verlassen, sich Neuem auszuliefern. Hinzugeben. Schon wieder dieses Wort. Hingabe. Als ob dies des Rätsels Lösung wäre. Die Lösung aller Rätsel. Kann das sein? Ist es die Hingabe, die ihm bisher gefehlt hat, um sich den Dingen, um sich Gott ganz und gar zu nähern?
Es stimmt. Matthias weiß es. Alles, was er bisher gesagt, getan und gefühlt hat, war kontrolliert. Von ihm kontrolliert. Nie, nie hat er zugelassen, etwas zu tun, etwas zu empfinden, das er nicht gleichzeitig in Worte oder Farben fassen, sich somit Untertan machen konnte. Ja, Kontrolle über sich, über den Alltag, das schien ihm bisher das Wichtigste in einer Welt, die sich so rasch wandelt, dass sie nicht mehr kontrollierbar scheint. Menschen lassen sich nicht kontrollieren, also mied er sie. Hingabe aber ist das genaue Gegenteil. Kontrollverzicht als Voraussetzung für Hingabe, einmal nur hat er das zugelassen. Damals in der Kirche in Kronach. Und dann noch einmal in Magdalenas Haus. Doch das war etwas anderes. Dann das Münster in Thann. Ein wunderschöner Bau. Den ganzen Tag sitzt er darin, denkt, grübelt, fühlt nach. Am Abend versteckt er sich hinter einer Säule, lässt sich einschließen. Will allein sein in diesem Münster. Allein mit sich, allein mit Gott, allein mit dem Satz: Jener muss wachsen. Matthias will es jetzt wissen. Jetzt ist er bereit, sich dem Brodeln in seiner Seele, in seinem Herzen und seinem Kopf hinzugeben. Er schließt die Augen, lauscht nach innen, sieht nach innen, spürt, wie die Flut in ihm steigt und sein Herzschlag noch schneller wird. Er fühlt sich wie ein Gefäß, das zum Bersten gefüllt ist. Und jetzt, jetzt wird er übermannt von einer Erkenntnis, die über ihn strömt wie ein Platzregen: Magdalena hat seine Seele berührt. Hat sie berühren dürfen, weil er es zugelassen hat. Nur sie allein. Nicht der Holbein’sche Altar, nicht die Schnitzereien Riemenschneiders, nicht seine Frau Anna, die ihm noch immer so fremd ist wie das Mädchen, das er aus einem Fenster des Dominikanerklosters im Wollgraben erblickt hat. Sie, Magdalena. Und Glück ist, wenn die Seele berührt wird, wenn man gleichzeitig zulassen kann, dass sie berührt wird. So einfach. So schwer. Guersis Satz: »Jener muss wachsen, ich aber muss abnehmen«, treibt ihn weiter, weiter in die Tiefe seiner Gedanken und Gefühle. Matthias wagt sich in Gebiete vor, die er nie zuvor betreten hat. Jetzt muss es sein. Es geht um den Isenheimer Altar, es geht um ihn, um das Verstehen seiner Vergangenheit, um die einzig richtige Gegenwart, um die Gestaltung der Zukunft. Er hat Angst, schreckliche Angst. Kann er das, was da in ihm hochsteigt, aushalten? Oder wird er verrückt werden dabei? Er fühlt sich wie am Rande eines Sumpfes, eines Moores, in dem es gefährlich blubbert und seufzt, aus dem Blasen aufsteigen, Nebel quellen. Wird das Moor über ihm zusammenschlagen und ihn verschlingen? Oder wird er Grund finden, einen Boden, auf dem er mit beiden Beinen fest stehen kann?
Alles hängt mit allem zusammen. Nur wie? Er spürt es, doch er kann es nicht greifen. Die innere Unruhe, das Aufgewühltsein treibt ihn vorwärts. Auch die Angst ist eine Triebkraft. Was er einmal dunkel geahnt hat, wird ihn begleiten wie ein Schatten, wenn er sich nicht stellt.
Auge in Auge sitzt Matthias vor dem Jesus des Altars. Schon einmal hat funktioniert, damals in Kronach, was er jetzt wieder versucht. Er versenkt sich in sein Gegenüber, wischt alle Gedanken aus seinem Kopf, schaut
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