Der Maler Gottes
Frau schreibt ihm, schildert ihr Leben in der Stadt, klagt über Geldnot. Matthias liest es, doch es dringt nicht in sein Bewusstsein.
Im Elsass, in Schwaben, überall erheben sich die Bauern, werden aufständisch, die Aufstände jedoch zunächst niedergeschlagen. Alle Zeichen stehen auf Veränderung. Matthias hört davon, doch er kann mit diesen Informationen nichts anfangen.
Mager wird er, hohläugig mit tiefen Augenschatten. Sein Gesicht verändert sich, nimmt einen asketischen Ausdruck an. Sein Kinn wird noch kantiger, die Nase scheint noch länger, das Haar wächst ihm bis auf die Schultern, zeigt einzelne graue Strähnen schon. Matthias sieht nichts davon. Er malt den Isenheimer Altar, sonst nichts. Tage, Wochen, Monate, Jahre vergehen so. Als Guido Guersi zu Beginn des Jahres 1516 krank wird, so krank, dass jeder weiß, der Präzeptor steht nicht wieder auf von seinem Krankenlager, wird Matthias’ Streben noch intensiver. Der Altar muss fertig sein, bevor Guersi stirbt. Das allein zählt noch. Fieberhaft arbeitet er, nimmt sich nicht mehr die Zeit zum Essen, zum Schlafen. Manchmal schläft er vor Erschöpfung beim Malen ein, findet sich auf dem kalten Steinboden wieder, den Pinsel noch in der Hand. Dann schüttelt er sich, streicht das Haar aus der Stirn, trinkt einen Schluck Wasser und malt weiter, immer weiter.
Seine Beinkleider sind ihm lange schon zu weit, rutschen bei jeder Bewegung, vermögen es kaum noch, seine Magerkeit zu verdecken. Matthias nimmt einen Kälberstrick, knotet ihn sich um den Leib und malt weiter. Sein Kittel ist steif vor Farbe, schränkt seine Beweglichkeit ein. Matthias reißt ihn vom Körper und malt mit nacktem Leib weiter. Seine Augen sind rot und entzündet, manchmal verschwimmt ihm der Blick. Er schüttet sich Wasser ins Gesicht und malt weiter. Von den giftigen Bestandteilen der Farben sind seine Hände rissig und entzündet, mit blutigen, eitrigen Wunden bedeckt. Matthias reißt ein Stück Stoff in Streifen, verbindet die Hände und malt weiter.
Figur um Figur, Szene für Szene, Tafel für Tafel entsteht. Schon ist die erste Schauseite fertig: die Kreuzigung Christi, der rechte Standflügel des heiligen Antonius, der linke mit dem heiligen Sebastian.
Die Magdalena auf der Kreuzigungsszene trägt Magdalenas Züge. Natürlich tut sie das. Wen sollte Matthias sonst malen? Die zweite Schauseite, links mit der Verkündigung an Maria, in der Mitte das Engelskonzert, Jesus in Marias Arm, rechts die Auferstehung Christi. Diesmal ist es die Maria, die Magdalenas Züge trägt.
Die dritte, die letzte Schauseite. Der rechte Flügel zeigt die Versuchung des heiligen Antonius, in der Mitte die Schreinsfiguren des Antonius, Augustinus und Hieronymus, geschnitzt vor Jahren von Nikolas von Hagenau, darunter die Predella mit den Figuren des Christus und der Apostel, geschnitzt Vorjahren von Matthias. Der linke Flügel zum Schluss. Er zeigt den Besuch des heiligen Antonius beim heiligen Paulus. Antonius trägt die Züge Guido Guersis, Paulus scheint das Konterfei des Matthias aus Grünberg zu sein. Das Konterfei als alter Mann, den nicht das Alter an sich, sondern die Erkenntnis, die Erfahrung eines langen Lebens und die daraus gewonnene Weisheit ausmachen. Und so fühlt Matthias, als er die letzten Pinselstriche ausführt: Der Isenheimer Altar ist fertig. Er hat ihn so gut gemalt, wie es ihm möglich war. Alles hat er gegeben für diesen Altar. Alles, was er hatte, alles, was er ist. Der Altar ist die Summe seines Lebens. Alles, was jetzt noch kommt, kann nur Wiederholung sein. Matthias ist erst 35 Jahre alt und weiß doch, dass er die Aufgabe seines Lebens, Gottes Auftrag auf Erden, bereits erfüllt hat. Nun ist er fertig, hat seine Schuld am Kreuzestod Jesu beglichen.
Nur Guido Guersi muss den Altar noch sehen. Gemeinsam mit einem Pfleger des Hospitals setzt Matthias den alten, kranken Mann in einen Sessel. Gemeinsam tragen sie den Präzeptor vor den Altar. Der alte Mann sitzt und schaut. Stumm ist er, vor Bewegung stumm. Die Tränen rinnen still über seine eingefallenen Wangen. Matthias sieht es, und plötzlich fallen ihm Magdalenas Worte ein: Die Menschen werden vor deinen Bildern stehen und weinen. Da steigen auch ihm Tränen in die Augen. Magdalena, ruft er sie in Gedanken, Magdalena, ich habe es geschafft. Warum bist du jetzt nicht bei mir? Nach einer langen Zeit der Stille erst nimmt Guersi Matthias’ Hand und sagt: »Ich wusste, dass du der einzig Richtige für dieses Bild
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