Der Maler und die Lady (German Edition)
aus Obstbaumholz. „Gefühle“, murmelte er und strich mit den Fingern über das Holz.
„Ja, das ist …“
„… Leid“, unterbrach er sie. Anatole sah die Angst, spürte den Schmerz.
„Ja.“ Lara war sich nicht sicher, ob sie sich über den seelischen Einklang mit ihm besonders bei diesem Stück, das sie so unendliche Mühe gekostet hatte, freuen sollte. „‚Freude‘ und ‚Zweifel‘ habe ich schon fertig. Die ‚Leidenschaft‘ hebe ich mir bis zuletzt auf.“ Lara spreizte die Hände auseinander und hob das Holzstück in Augenhöhe. „Das hier wird der ‚Zorn‘.“ Sie klopfte gegen das Holz, als hätte sie die Absicht, es zu verärgern. „Eine der sieben Todsünden, obwohl ich das schon immer für einen Irrtum gehalten habe. Der Mensch braucht die Wut.“
Eine Veränderung ging in Laras Augen vor sich, während sie immer noch auf das Stück Holz starrte, als wollte sie es mit Blicken durchbohren. Sie hatte Geheimnisse, sie selbst war voller Rätsel. Aber jetzt, vom Sonnenlicht umflossen, das formlose Stück Holz in der Hand, erschien sie Anatole wie ein offenes Buch, ein Mensch, dem die Gefühle ins Gesicht geschrieben standen. Noch ehe es ihm ganz bewusst wurde, bewegte Lara sich, und die Stimmung war gebrochen. Lachend sah sie zu ihm hoch und meinte neckend: „Da ich am ‚Zorn‘ arbeiten werde, wirst du wohl oder übel meine Temperamentsausbrüche in Kauf nehmen müssen.“
Sie drehte das Stück Holz in den Händen und warf dann einen Blick auf Anatoles Arbeitsunterlagen. „Hast du irgend etwas in Arbeit?“
„Ich hatte.“ Er kam herum und blieb vor ihr stehen. „Aber jetzt habe ich etwas anderes vor. Ich werde dich malen.“
Laras Blick wanderte vom Holz in ihren Händen zu Anatoles Gesicht. Einigermaßen verdutzt und auch ein wenig argwöhnisch sah sie ihn an. „Warum?“
Anatole trat noch einen Schritt näher und nahm ihr Kinn in die Hand. Lara verhielt sich vollkommen passiv, während er ihr Gesicht von allen Seiten betrachtete. Aber sie spürte jeden einzelnen Finger auf der Haut. Ihre Haut war weich, und Anatole gab dem drängenden Verlangen nach, mit dem Daumen ihre Wange zu streicheln. Sie blickte ihm direkt und unverwandt in die Augen.
Schließlich antwortete er: „Weil du ein faszinierendes Gesichthast. Diese Transparenz – und deine Sinnlichkeit – will ich auf die Leinwand bannen.“
Ihr Mund schien durch die flüchtige Berührung seiner Finger zu glühen. Fest schlossen sich ihre Finger um das Stück Holz, aber ihre Stimme klang gleichmütig. „Und wenn ich nein sage?“
Noch etwas reizte Anatole an ihr: die Spur von Arroganz, die sie zuweilen sehr erfolgreich einzusetzen verstand. Mit diesem Blick konnte sie die Männer vor sich in den Staub zwingen. Bedächtig beugte er sich vor und küsste sie. Er spürte, wie sie sich versteifte, ihn abwehren wollte und dann ganz ruhig blieb. Sie war auf ihre Art wachsam und genoss zugleich die Gefühle, die seine unvermittelte Berührung in ihr aufgewühlt hatte. Als Anatole den Kopf hob, blickte er in Laras unergründliche tiefgraue Augen.
„Ich würde dich trotzdem malen“, murmelte er. Er verließ das Atelier und gab damit beiden Gelegenheit zum Nachdenken.
Lara fing tatsächlich an zu grübeln. Nahezu eine halbe Stunde saß sie vollkommen reglos da und ließ die Gedanken im Kopf kreisen. Es war eine sonderbare Fähigkeit ihres sonst so lebhaften, ruhelosen Naturells, sich in eine so totale innere Ruhe zurückziehen zu können. Wenn nötig, konnte Lara absolut bewegungslos dasitzen und über Probleme nachdenken, für die sie eine Antwort suchte. Anatole war so ein Fall.
Er rührte etwas in ihrem Innern an, das sie nie zuvor erlebt hatte. Lara glaubte fest daran, dass zu den wertvollsten Dingen im Leben Originalität und Spontaneität gehörten. Diesmal jedoch fragte sie sich, ob sie nicht einen großen Bogen darum machen sollte.
So wie sie die Erfüllung der eigenen Wünsche für eine Selbstverständlichkeit hielt, schätzte sie diese Eigenschaft auch an einem Mann. Lara war auch keineswegs abgeneigt, sich mit Anatole zu messen. Aber … bei Anatole wusste sie nicht, woran sie mit ihm war.
Es war bestimmt sicherer und klüger, sich mit Rücksicht auf den van Gogh und ihres Vaters Hobby mit den Unannehmlichkeiten auseinanderzusetzen, die Anatoles unprogrammgemäße Anwesenheit mit sich brachte. Der Zeitpunkt ihrer erwachenden Zuneigung zu ihm war schlecht gewählt. Unbewusst strich sie sich mit der Zungenspitze
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