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Der Maler

Der Maler

Titel: Der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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der sich in ihre Schulter gebohrt hatte.

    Die Frau trat gegen die Tür, aber sie gab nicht nach.
    Elizabeth nahm den Bogen herab. Er hatte die Standardlänge von fünfeinhalb Fuß. Der Pfeil war aus Aluminium und am Ende mit Federn besetzt. Sie nahm ihn zwischen Zeige-und Mittelfinger der rechten Hand und tastete mit dem Daumen nach der Kerbe hinter den Federn. Das hatte sie schon so oft getan, daß sie es auch im Dunkeln und mit zitternden Händen konnte.
    Die Frau trat erneut gegen die Tür, die auch diesmal nicht nachgab.
    Elizabeth legte den Pfeil auf die Sehne und ließ ihn auf ihrer linken Hand ruhen, die den Bogen umklammerte. Sie zog ihn halb zurück und holte dann tief Luft.
    Kannst du wirklich? fragte sie sich.
    Sie hatte noch nie ein Lebewesen getötet, hatte nie daran gedacht, auf die Jagd zu gehen. Das hätte ihr Vater ohnehin nicht zugelassen. Er hatte einmal einen ihrer Freunde erwischt, wie er mit Pfeil und Bogen einem Weißschwanzhirsch auflauerte, und dem jungen Mann für den Rest des Sommers das Haus verboten.
    Die Frau trat erneut gegen die Tür. Diesmal gab das Schloß nach, und die Tür flog krachend auf.
    Elizabeths Körper erstarrte. Sie fühlte sich wie aus Stein gehauen. Sie zwang sich dazu, gleichmäßig zu atmen. Tu's für Michael, dachte sie. Tu's für deine ungeborenen Kinder.
    Sie zog den Pfeil weit zurück und öffnete die Schranktür mit dem Fuß. Astrid Vogel, die ihre Pistole mit beiden Händen fast in Gesichtshöhe hielt, stand im Türrahmen. Sie drehte sich nach dem plötzlichen Geräusch um und brachte die Waffe mit ausgestreckten Händen in Schußposition.
    Elizabeth ließ den Pfeil los.
    Der Pfeil traf Astrid unter dem Kehlkopf, ließ sie zurücktaumeln und nagelte sie an die offene Tür. Elizabeth schrie gellend auf. Astrid riß die Augen weit auf und öffnete die Lippen wie zu einem lautlosen Schrei.
    Irgendwie gelang es ihr, die Pistole nicht zu verlieren. Sie hob die Waffe und begann zu schießen. Elizabeth warf sich in den Einbauschrank. Schüsse zersplitterten die Tür, das Schlafzimmerfenster klirrte, und Putz rieselte von den Wänden.
    Sie sank zu Boden und blieb zusammengerollt liegen.
    Dann hörten die Schüsse auf. Die einzigen Geräusche waren das Brausen des Windes und das Klicken, mit dem Astrid Vogel trotz leergeschossener Pistole weiterzuschießen versuchte.
    Elizabeth rappelte sich auf, zog einen weiteren Pfeil aus dem Regal und trat aus dem Einbauschrank.
    Astrid wühlte in ihrer Jackentasche. Aus ihrer Halswunde kam stoßweise Blut. Sie scha ffte es, ein volles Magazin aus der Tasche zu ziehen.
    »Nein, bitte nicht«, sagte Elizabeth. »Ich will nicht noch mal schießen müssen.«
    Astrid starrte erst sie, dann den in ihrer Kehle steckenden Pfeil an. Das Magazin glitt ihr aus den Fingern; dann fiel ihre Pistole polternd zu Boden. Sie holte keuchend zweimal tief Luft.
    In ihrem Hals gurgelte Blut.
    Zuletzt wurde ihr Blick starr.
    Elizabeth sank auf die Knie und mußte sich heftig übergeben.
    Unten im Keller hörte Michael Oktobers Schritte über sich, der das dunkle Wohnzimmer absuchte. Michael wußte, daß Oktober methodisch und sorgfältig vorging. Er würde das Haus Zimmer für Zimmer durchsuchen, bis er ihn gefunden hatte. Er würde Oktober nochmals überlisten müssen - wie auf der Fußgängerbrücke am Potomac. Oktober bewegte sich in einem fremden Haus, auf unbekanntem Gebiet. Michael hätte sich selbst mit geschlossenen Augen in den Räumen zurechtfinden können. Diesen Vorteil würde er nutzen müssen.

    Oktober war aus dem Wohnzimmer auf den Flur getreten.
    »Ich habe Ihre Frau, Mr. Osbourne!« rief er laut. »Wenn Sie unbewaffnet und mit erhobenen Händen rauskommen, passiert ihr nichts. Zwingen Sie mich dazu, Sie wie ein Tier zu jagen, erschieße ich auch sie.«
    Michael sagte nichts, sondern horchte nur auf das Geräusch von Oktobers Schritten im Erdgeschoß des Hauses.
    Nach kurzer Pause sagte Oktober laut: »Auch ich erinnere mich an jene Nacht in London, Mr. Osbourne. Ich weiß noch, wie ihre Schreie über die Straße am Fluß hallten. Sie ist eine Schönheit gewesen. Sie müssen sie sehr geliebt haben. Wirklich schade, daß sie sterben mußte. Sie ist die erste und einzige Frau gewesen, die ich ermordet habe, aber ich werde nicht zögern, Ihre Frau zu erschießen, wenn Sie mit diesem Unsinn weitermachen. Geben Sie auf, sonst stirbt sie mit Ihnen.«
    Michael spürte, wie er zornig wurde. Allein die Stimme dieses Mannes zu hören erfüllte ihn

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