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Der Maler

Der Maler

Titel: Der Maler Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Silva
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sickerte durchs Golden Gate herein. Unter ihm standen bunte Drachen über der Küstenlinie.
    Die Aussicht hatte einen ganz eigenen Zauber. Beckwith vergaß, wie lange er dastand und die schweigende Stadt, die mit Schaumkronen bedeckte Bucht und die braunen Hügel von Marin in der Ferne betrachtete. Das letzte Licht dieses Tages schwand, und nach einigen Minuten starrte ihn sein eigenes Spiegelbild aus der Scheibe an.
    Beckwith mochte das Wort »patrizisch« nicht, aber selbst er mußte zugeben, daß es seine Erscheinung und sein Auftreten gena u beschrieb. Seine Berater behaupteten scherzhaft, wenn Gott den idealen politischen Kandidaten hätte erschaffen wollen, wäre James Beckwith dabei herausgekommen. Er ragte in jeder Umgebung hervor. Er war einen Meter fünfundachtzig groß und hatte volles glänzendes Haar, das schon vor seinem vierzigsten Lebensjahr silbergrau geworden war. Er war noch immer athletisch und hatte sich etwas von der körperlichen Gewandtheit aus seiner großen Zeit als Footballstar und Baseballspieler in Stanford bewahrt. Die äußeren Winkel seiner blaßblauen Augen senkten sich leicht nach unten, sein schmales Gesicht wirkte beherrscht, sein Lächeln wirkte zurückhaltend, aber selbstbewußt. Seine Haut war von zahllosen Stunden auf der Democracy permanent gebräunt.

    Als Beckwith vor vier Jahren das Präsidentenamt
    übernommen hatte, hatte er sich selbst etwas versprochen: Er würde nicht zulassen, daß dieses Amt ihn auffraß, wie es schon viele seiner Vorgänger aufgefressen hatte. Er joggte jeden Tag dreißig Minuten auf dem Laufband im Fitneßraum des Weißen Hauses und arbeitete eine halbe Stunde lang mit Hanteln.
    Andere Männer hatte dieses Amt ausgezehrt, Beckwith hatte sein Gewicht verringert und seinen Brustumfang um drei Zentimeter vergrößert.
    James Beckwith hatte sich nicht in die Politik gedrängt, sondern die Politik war zu ihm gekommen. Er war der beste Strafverfolger der Bezirksstaatsanwaltschaft in San Francisco gewesen, als die Republikaner in Kalifornien auf ihn aufmerksam geworden waren. Mit Anne und den drei Kindern an seiner Seite gewann Beckwith jede Wahl. Sein Aufstieg wirkte mühelos, als sei er vom Schicksal zu Großem bestimmt.
    Kalifornien wählte ihn zum Justizminister, dann zum Vizegouverneur. Es schickte ihn für zwei Amtsperioden in den Senat und brachte ihn dann für eine Amtsperiode als Gouverneur nach Sacramento zurück - die ideale Ausgangsposition für seinen Weg ins Weiße Haus. In seiner gesamten politischen Laufbahn arbeiteten die Politprofis, von denen er umgeben war, auf ein bestimmtes Image für ihn hin.
    James Beckwith war ein Konservativer mit gesundem Menschenverstand. Beckwith war ein Mann, dem man vertrauen konnte. Beckwith war ein tatkräftiger Macher. Er war genau der Mann, den die Republikanische Partei suchte: ein moderater Politiker von angenehmer Erscheinung, eine vorzeigbare Alternative zu den konservativen Hardlinern im Kongreß. Nach acht Jahren demokratischer Herrschaft im Weißen Haus hatte Amerika das Bedürfnis nach einem Wechsel. Das Land entschied sich für Beckwith.
    Jetzt, vier Jahre später, war das Land sich nicht sicher, ob es ihn behalten wollte. Er wandte sich vom Fenster ab und ging zu seinem Schreibtisch zurück. Er goß sich eine Tasse Kaffee aus einer chromfarbenen Isolierkanne ein. Beckwith war ein Anhänger der Theorie, jedes Unglück habe auch etwas Gutes.
    Der Abschuß einer amerikanischen Verkehrsmaschine vor Long Island war ein verbrecherischer Akt des internationalen Terrorismus, eine brutale und feige Tat, die nicht ungesühnt bleiben durfte. Die Wählerschaft würde bald erfahren, was Beckwith bereits wußte - daß Trans-Atlantic Flug 002 von einer Boden-Luft-Rakete Stinger getroffen worden war, die offenbar von einem kleinen Boot vor der Küste abgeschossen worden war. Das amerikanische Volk würde Angst haben, und wenn historische Präzedenzfälle noch Gültigkeit hatten, würde es von seinem Präsidenten Worte des Trostes und der Beruhigung erwarten.
    James Beckwith verabscheute das politische Tagesgeschäft, aber er war andererseits clever genug, um zu erkennen, daß die Terroristen ihm eine einmalige Chance verschafft hatten. Im vergangenen Jahr hatte sich mehr als die Hälfte der Bevölkerung gegen seine Amtsführung ausgesprochen - absolut tödlich für einen amtierenden Präsidenten. Die Rede, mit der er seine erneute Nominierung auf dem Parteitag der Republikaner akzeptiert hatte, war matt und

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