Der Maler
schwunglos gewesen. Das Washingtoner Pressekorps hatte seine Vision für eine zweite Amtsperiode als »aufgewärmte erste Amtszeit« gebrandmarkt.
Einige der bekanntesten Journalisten hatten bereits angefangen, seinen politischen Nachruf zu schreiben. Nur einen Monat vor der Wahl lag er in den meisten landesweiten Umfragen drei bis fünf Prozent hinter seinem Herausforderer, Senator Andrew Sterling aus Nebraska, den die Demokratische Partei ins Rennen geschickt hatte.
Geographisch sah die Verteilung des Wählerpotentials jedoch anders aus. Beckwith hatte New York, New England und den industriellen Mittleren Westen an Sterling abgegeben. Stark war seine Anhängerschaft weiterhin im Süden, wo Florida und Texas entscheidend sein würden, in Kalifornien und den Bergstaaten des Westens. Sicherte Beckwith sie sich alle, hatte er gewonnen.
Mußte er auch nur einen an Sterling abgeben, war die Wahl verloren.
Beckwith wußte, daß der Abschuß der Boeing 747 alles ändern würde. Der Wahlkampf würde unterbrochen werden; er würde seine Wahlkampfreise durch Tennessee und Kentucky absagen und nach Washington zurückkehren, um die Krise zu bewältigen. Wenn er es geschickt macht, würden die Umfrageergebnisse anders aussehen und ihn wieder näher an Sterling heranbringen. Und das alles konnte er sicher und bequem vom Weißen Haus aus tun, statt mit der Air Force One oder irgendeinem Wahlkampfbus kreuz und quer durchs Land reisen, alten Leuten die Hand schütteln und immer wieder die gleiche gottverdammte Rede halten zu müssen.
Große Männer werden nicht groß geboren, sagte er sich.
Große Männer werden groß, weil sie eine sich bietende Gelegenheit ergreifen.
Er trat mit der Kaffeetasse in der Hand wieder ans Fenster.
Aber will ich wirklich eine zweite Amtszeit? dachte er. Im Gegensatz zu seinen meisten Vorgängern hatte er ernsthaft über diese Frage nachgedacht. Er fragte sich, ob er das Stehvermögen für einen letzten Wahlkampf hatte: die endlose Geldbeschafferei, die minutiöse Durchleuchtung seiner bisherigen Arbeit, die vielen Reisen durchs ganze Land. Anne und er hatten das Leben in Washington hassen gelernt. Die herrschende Elite der Hauptstadt - die reichen Journalisten, Anwälte und Lobbyisten - hatte ihn nie akzeptiert, und der Wohnsitz des Präsidenten war ihnen mehr ein Gefängnis als ihr Heim geworden. Aber nach nur einer Amtsperiode aus dem Amt zu scheiden war inakzeptabel. Die Wiederwahl gegen einen erst zweimal gewählten Senator aus Nebraska zu verlieren und Washington als Verlierer verlassen zu müssen...
Beckwith schauderte es bei diesem Gedanken.
Er würde bald abgeholt werden. Neben seinem Arbeitszimmer befand sich eine private Toilette. Ein Assistent hatte seine Kleidung an den Garderobenhaken hinter der Tür gehängt. Der Präsident ging hinein und begutachtete, was er anziehen sollte.
Er wußte, daß Paul Vandenberg, sein Stabschef und langjähriger Freund, die Kleidung persönlich ausgesucht hatte. Paul kümmerte sich um solche Details; Paul kümmerte sich um alles.
Ohne ihn wäre Beckwith verloren gewesen.
Manchmal war es sogar Beckwith peinlich, in welchem Ausmaß Paul Vandenberg über seine Angelegenheiten bestimmte. Die Medien bezeichneten ihn routinemäßig als »Premierminister« oder »graue Eminenz«. Beckwith, der sich seines historischen Images stets bewußt war, ma chte sich Sorgen, er könnte als Paul Vandenbergs Marionette abgeschrieben werden. Vandenberg hatte Beckwith sein Wort gegeben, ihn nie in dieser Rolle darzustellen. Der Präsident vertraute ihm. Paul Vandenberg verstand sich darauf, Geheimnisse zu wahren. Er hielt mehr von unauffälliger Machtausübung. Er war vorbildlich diskret, achtete darauf, nicht aufzufallen, und lieferte Reportern nur Insiderinformationen, wenn es sich gar nicht vermeiden ließ. Er trat widerstrebend in Talkshows am Sonntagmorgen auf, und das nur dann, wenn die Pressereferentin des Weißen Hauses ihn darum bat. Beckwith hielt ihn für einen schrecklichen Talkshowgast; das Selbstbewußtsein und die Brillanz, die er bei privaten Planungs-und Strategiegesprächen zeigte, lösten sich in Luft auf, sobald das rote Licht einer Fernsehkamera aufflammte.
Er zog seine ausgebleichten Jeans und den Baumwollpullover aus und die Sachen an, die Paul für ihn ausgesucht hatte: eine graue Flanellhose, ein blaues Hemd mit Buttondown-Kragen, einen dünnen Pullover mit rundem Halsausschnitt, einen blauen Blazer. Dem Anlaß entsprechend, aber bequem.
Weitere Kostenlose Bücher