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Der Mann aus dem Safe

Der Mann aus dem Safe

Titel: Der Mann aus dem Safe Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Steve Hamilton
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Dabei versuchte ich gerade das angestrengt zu vermeiden.
    Das ist es, dachte ich. So macht man das. Auch wenn es bloß eine Zeichnung von einem jungen Mädchen ist oder zwei rauchenden Männern oder gar einem Apfel mit einem Messer darin. Wer auch immer das gezeichnet hat … sie spricht selbst aus diesen Blättern.
    Als ich die Mappe wieder schloss, bemerkte ich eine zweite darunter. Während die obere so eine billige aus Karton war, wie man sie in der Schule bekommt, bestand die untere aus schwarzem Leder und hatte einen um drei Seiten laufenden Reißverschluss. Ich zögerte kurz, dann zog ich ihn auf.
    »Mike, wir müssen sofort hier weg!« Die Stimme klang jetzt panisch, aber ich achtete nicht darauf. Ich hörte sie noch nicht einmal bewusst und erinnerte mich erst eine Stunde später daran, als ich die ganze Szene noch einmal in Gedanken durchspielte.
    In der Mappe befanden sich mehrere Porträtzeichnungen von einer Frau. Dreißig Jahre alt, schätzungsweise. Sehr hübsch, aber auf eine traurige, verhärmte Art. Lange Haare, im Nacken zurückgebunden. Ein schmales, befangenes Lächeln. Auf der ersten Zeichnung saß sie auf einem Stuhl und hatte die Hände im Schoß gefaltet. In einem Innenraum. Auf der nächsten saß sie auf einer Bank im Freien, denselben Ausdruck im Gesicht. Als würde sie sich in der Situation nicht ganz wohl fühlen. Es gab noch ein paar mehr Porträts von dieser Frau. Nach den unterschiedlichen Papiersorten und Bleistifthärten zu urteilen, waren sie wohl über einen längeren Zeitraum entstanden. Man konnte sogar erkennen, wie sich die Fähigkeiten der Zeichnerin verbessert hatten.
    Dann das allerletzte Bild … Ein anderes Modell. Jünger. Ich erkannte an dem dünn geriebenen und am Rand zerknitterten Papier, an den Radiergummispuren um die Augen und den Mund – das hier war etwas, an dem die Künstlerin viel gearbeitet hatte, das sie sich immer wieder vorgenommen hatte. Ich spürte regelrecht die Mühe, die es sie gekostet hatte, etwas Bestimmtes in dieser schlichten Zeichnung von einem Gesicht einzufangen.
    Das war sie selbst, erkannte ich. Das war ein Selbstporträt. Zum ersten Mal blickte ich in Amelias Gesicht.
    Irgendwo draußen quietschten Reifen auf dem Asphalt. Scheinwerfer glitten über die Wand und rissen mich endlich aus meiner Versunkenheit. Ich ließ die Zeichnung fallen. Rannte in den Flur und die Treppe hinunter. Durch das Wohnzimmerfenster sah ich einen Wagen, der quer über der Einfahrt stand. Ich rannte zur Hintertür hinaus. Ein Fehler. Man muss sich ein Fenster auf der anderen Hausseite suchen, möglichst weit weg von jedem Zugang, wenn man türmen will.
    Es waren zwei. Sie nahmen mich im Garten in die Zange, dass mir die Luft wegblieb. Eine volle Minute lang konnte ich nicht atmen. Da war es wieder, dieses Entsetzen von vor neun Jahren. Du bekommst keine Luft, Mike. Du bekommst keine Luft und wirst ersticken.
    »Wo sind die anderen?« Eine Stimme laut und heiß in meinem Ohr. Langsam setzte meine Atmung wieder ein.
    »Sag uns, wo sie hin sind! Wer war bei dir?«
    Ich sagte kein Wort. Also nahmen sie mich mit und schleppten mich auf die Polizeiwache.

[home]
    Kapitel zehn
    Los Angeles
Januar 2000
    E he ich am nächsten Morgen zum Busbahnhof ging, säbelte ich mir die Haare ab. Schluss mit den zotteligen Locken. Ich schnitt so dicht an die Kopfhaut, wie es nur ging, um eine möglichst drastische Veränderung zu erzielen. Als ich fertig war, sah ich aus wie einer, der gerade seine letzte Chemo hinter sich hatte.
    Außerdem kaufte ich mir eine Sonnenbrille mit den hellsten Gläsern, die ich fand, damit ich sie ständig tragen konnte. In Kombination mit den kurzgeschorenen Haaren blickte mich tatsächlich ein anderer Mensch im Spiegel an. Zwar fühlte ich mich nicht anders, aber manches kann man eben nicht so leicht verändern.
    Ich kaufte mir eine neue Jeans, ein neues Hemd, eine neue Jacke. Die Kleider, die ich getragen hatte, warf ich in den Müllcontainer. Ich wusste, dass ich mein Geld zusammenhalten musste, aber ein Mann braucht schließlich was am Leib, oder? Und schließlich shoppte ich ja nicht bei Saks Fifth Avenue.
    Dann packte ich meine ganze Habe ein. Ein bisschen Unterwäsche und Socken. Ein zweites Paar Schuhe. Eine Zahnbürste. Eine halbe Tube Zahnpasta. Ein Stück Seife und eine fast leere Flasche Shampoo. Mein Safeschloss zum Üben. Mein Ledermäppchen mit den Spannern und Picks. Eine dicke Mappe mit den Zeichnungen, die ich gemacht hatte, während

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