Der Mann aus London
draußen gewesen. Die Hotelbesitzerin hatte bereits am Schreibtisch gesessen, als er zurückgekommen war, völlig ruhig, wie von einem Spaziergang.
»Sie lassen mich bitte bis zehn Uhr schlafen«, ordnete er an. »Ich möchte auf keinen Fall gestört werden, auch wenn jemand mich am Telefon verlangt oder persönlich sprechen möchte. Um zehn Uhr schicken Sie mir dann das Frühstück hinauf.«
»Aber dann schlafen Sie ja nur zwei Stunden!«
»Das genügt.«
Er war sehr nett und überhaupt nicht eingebildet, und trotzdem wagte sie nicht, ihn auszufragen. Als der Hausdiener um halb acht eingetroffen war, hatte er berichtet, draußen sei alles voller Polizei und Gendarmen. Er hatte etwas übertrieben, aber nicht so sehr. Als die Geschäftsleute morgens ihre Läden öffneten, machten sie die gleiche Feststellung.
Es sah ganz so aus, als ob es den ganzen Tag regnen würde. Das Meer schimmerte in heimtückischem Grün und war von weißen Schaumkämmen durchzogen.
Bereits um viertel vor neun wurde der Inspektor am Telefon verlangt, aber die Hotelbesitzerin ließ sich nicht erweichen.
»Nein, Monsieur, unmöglich … Inspektor Molisson hat mir strikte Anweisung gegeben. Nach zehn Uhr kann ich Sie durchstellen, wenn Sie wollen …«
»Ob sie ihn wohl schnappen?« hatte Germain gemurmelt, als er zum Dienst erschienen war.
Madame Dupré merkte erst jetzt zu ihrer größten Verwunderung, daß sie bisher noch gar nicht an Monsieur Brown gedacht hatte, so sehr war sie beeindruckt von dem imposanten Polizeiaufgebot und der ruhigen Autorität des Inspektors.
»Wo kann er sich versteckt haben?« fuhr Germain fort, als er die weiße Jacke anzog, die er immer trug, wenn er nicht bei Tisch bediente. »Hätten Sie ihn für einen Gauner gehalten, Madame Dupré? Er hatte so eine traurige Art, seinen Whisky zu trinken und mich um einen zweiten zu bitten. Ohne etwas zu sagen, nur mit einem Blick, einer Handbewegung …«
»Pst! Sehen Sie nicht, daß Monsieur Mitchel herunterkommt?«
Maloin, der geräuschvoll atmete wie einer, der zuviel getrunken hat – tatsächlich jedoch hatte er nicht einen Tropfen Alkohol getrunken –, drehte sich auf die linke Seite. Dabei wurde ihm bewußt, daß er in seinem Bett war und seit etwa einer Stunde geschlafen hatte. Im selben Augenblick wurde unten die Haustür aufgemacht und wieder geschlossen. Er hätte beinahe angefangen, seinen Problemen nachzuhängen, aber er fühlte instinktiv, daß er damit zu keinem Ende kommen, daß das unerfreulich sein würde, und es gelang ihm, wieder einzuschlafen.
Als gerade die Haustür gegangen war, hatte Henriette das Haus verlassen. Sie hatte ihre Holzschuhe angezogen, ein Kopftuch umgebunden, und in ihrer Manteltasche steckte ein schwerer Schlüssel.
»Hol ein paar Krabben fürs Mittagessen«, hatte die Mutter ihr aufgetragen.
Dazu mußte sie nicht zum Hafenbecken hinuntersteigen, sondern den Weg bis vorn zur Steilküste weitergehen. Hier oben war das Gelände mit kurzem Gras bewachsen, das von dem gleichen verwaschenen Grün war wie das des Wassers unten. Henriette fiel ein Gendarm auf, der hier oben so postiert war, daß er sowohl die Steilküste wie den Hafen überblicken konnte, aber sie machte sich deswegen keine Gedanken und bog in den schluchtartigen Einschnitt ein, der den Abstieg zum Meer bildete.
Es war Ebbe. Über eine Breite von zweihundert Metern hinweg waren der steinige Meeresboden und die herumliegenden Felsbrocken mit Algen und anderen Meerespflanzen bedeckt, durch die man – möglichst ohne auszurutschen – hindurchwaten mußte, um die Krabben mit einem besonderen Haken zu fangen. Schon im Alter von sechs Jahren hatte Henriette hier an der gleichen Stelle Krabben gefangen. Der Nieselregen klebte ihr das Haar an die Schläfen, und sie atmete tief ein, um den Geruch von Tang und Algen aufzunehmen. Dann ging sie zu der Hütte, die ihr Vater unterhalb des Felsens aus zusammengetragenem Material errichtet hatte, wobei er durch die senkrecht abfallende Steilküste die Rückwand gespart hatte.
Über sich konnte sie immer noch den Gendarmen sehen. Da er sonst nichts zu tun hatte, schaute er ihr nach.
»Vater hat vergessen, die Tür abzuschließen«, dachte sie, als sie den Schlüssel im Schloß umdrehen wollte und dabei feststellte, daß er nicht ging.
In der Hütte war ein leichtes flaches Boot, das Maloin zum Fischfang benutzte; außerdem Hummerkästen, Angeln und allerhand Kram, den er nach heftigen Stürmen an der Küste
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