Der Mann aus London
daß es elf Uhr war. Demnach konnte er eigentlich noch zwei Stunden schlafen. Hinterher war immer noch Zeit genug, sich den Kopf zu zerbrechen.
Mademoiselle Mitchel kam die Treppe herunter, und die Hotelbesitzerin sah ihr neugierig entgegen. Sie hatte sie noch nicht gesehen, da der Nachtportier die englischen Gäste in Empfang genommen hatte. Irgendwie macht man sich ja immer ein Bild von einem Menschen, bevor man ihn kennenlernt, und Madame Dupré hatte sich Eva Mitchel als eine schlanke und sportliche junge Dame mit entschlossenem Auftreten vorgestellt.
Mit ihren großen blauen Augen, der Stupsnase und dem verspielten Kleid wirkte sie jedoch eher wie ein kleines Mädchen, fast wie eine Puppe. Sie konnte ein paar Brocken Französisch, kaum mehr als ihr Vater, und ihr Akzent hatte etwas Rührendes.
»Gibt es Neuigkeiten?« wollte sie wissen.
»Neuigkeiten? Worüber, Mademoiselle Mitchel?«
»Über unser Geld.«
»Nein! Ich weiß nur, daß man – ich bitte um Verzeihung –, daß man eine Leiche aus dem Hafenbecken gefischt hat. Germain, unser Kellner, hat gerade berichtet, daß der Tote zwei Tage lang an einem Pfahl der Südmole gehangen hat …«
»Der Südmole …« wiederholte sie wie jemand, der gerade Französisch lernt.
Sie hatte nichts verstanden. Madame Dupré sprach zu schnell. Sie schaute sich zuerst in der Bar, dann im Speisesaal und im Salon um, offenbar auf der Suche nach einem Platz, an dem sie sich niederlassen konnte. Zum Schluß ging sie doch zum Ausgang.
Es regnete immer noch. Sie überquerte aber trotzdem die Dammstraße und spazierte ganz allein die Strandpromenade entlang. Von weitem sah sie noch durchsichtiger und kindlicher aus.
Der Inspektor und Monsieur Mitchel traten aus einem Schuppen am Hafenbecken, und der Inspektor sagte zum Hafenmeister:
»Kein Zweifel, das ist Teddy. Ich werde Ihnen seine Akte schicken lassen.«
»Glauben Sie, daß er umgebracht worden ist?«
»Da bin ich sogar ganz sicher. Das mußte eines Tages so kommen. Wenn Sie die Sache mit Brown miterlebt hätten, dann würden Sie das verstehen. Teddy war gewissermaßen sein böser Engel. Immer war es Teddy, der ihn zu diesem und jenem anstiftete, aber wie durch Zufall bekam Brown nie seinen Teil ab …«
Der Hafenmeister verabschiedete sich mit einem Händedruck.
Monsieur Mitchel war furchtbar aufgeregt. Er bestürmte den Inspektor mit Fragen, während sie am Kai entlanggingen.
»Sie haben diesem Burschen doch ausgerichtet, was ich Ihnen aufgetragen habe?«
»Aber sicher. Wort für Wort!«
»Sie hatten mir aber versichert, daß Brown die Scheine herausrücken würde, sobald er merkt, daß die Sache aufgeflogen ist. Um seine Ruhe zu haben …«
Der Inspektor antwortete nicht. Er hatte schon von weitem die Gendarmen und Polizeibeamten in Zivil erkannt, mit denen er noch zu reden hatte. Die Bewohner von Dieppe hatten die Leute auch erkannt, und in den Geschäften bildete das Polizeiaufgebot Thema Nummer Eins, um so mehr, als in den Zeitungen nichts von einem Verbrechen oder einem größeren Diebstahl stand.
»Im Augenblick sollten Sie lieber wieder zu Ihrer Tochter ins Hotel, Mr. Mitchel.«
»Wissen Sie auch, daß ich es war, der ihm seinen ersten Auftritt verschafft hat? Seine erste Nummer als Verrenkungskünstler? Vorher war er nur ein ganz gewöhnlicher Clown in einem Wanderzirkus.«
»Ja, gewiß … Aber Sie sollten jetzt zu Miss Eva zurückgehen. Sie wird sich sicher langweilen so allein im Hotel.«
Je mehr Maloin sich abmühte, Schlaf zu finden, desto ausgelaugter fühlte er sich. Er hatte sich schon ein Dutzend Mal hin und her gewälzt, und der Nacken tat ihm weh. So sehr er auch versuchte abzuschalten, seine Gedanken reihten sich von selbst wieder aneinander, sobald er einen Augenblick in seinen Anstrengungen nachließ.
»Vater steht auf«, sagte Madame Maloin zu ihrer Tochter, während sie die Tischdecke ausbreitete.
»Soll ich ihm was sagen?«
»Erst wollen wir mal sehen, in welcher Laune er ist. Ich geb dir dann ein Zeichen.«
Wenn er zum Essen herunterkam, steckten seine Füße in Filzpantoffeln, und er hatte meistens nur eine Hose und eine alte Jacke übers Nachthemd angezogen. Diesmal jedoch hörte man ihn längere Zeit hin und her laufen, und als er schließlich die Küchentür aufstieß, hatte er seinen Sonntagsanzug an wie tags zuvor.
»Was für Geheimnisse habt ihr euch den ganzen Morgen zu erzählen gehabt?« brummte er und sah sich argwöhnisch im Raum um.
Dann schaute
Weitere Kostenlose Bücher