Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
außerordentlich wichtig ist. Meine Verhandlungen mit Fürst Orlow stehen kurz vor dem Abschluß. Falls er jetzt ermordet werden sollte, würde alles platzen – und das hätte gravierende Folgen für die Sicherheit unseres Landes.«
»Das ist mir durchaus klar, Eure Lordschaft«, sagte Thomson. »Lassen Sie mich berichten, welche Fortschritte wir bisher gemacht haben. Unser Mann heißt Felix Kschessinsky. Da der Name schwer auszusprechen ist, schlage ich vor, daß wir ihn einfach Felix nennen. Er ist vierzig Jahre alt, Sohn eines Landpriesters und stammt aus der Provinz Tambow. Mein korrespondierender Kollege in St. Petersburg hat eine sehr dicke Akte über ihn. Er wurde dreimal verhaftet und wird wegen eines halben Dutzends von Mordfällen gesucht.«
»Ach, du lieber Gott«, stammelte Waiden.
»Mein Freund in St. Petersburg fügte hinzu, daß es sich bei ihm um einen Bombenfachmann handelt, der als sehr gefährlich gilt.« Thomson machte eine Pause. »Es war äußerst mutig von Ihnen, diese Flasche aufzufangen.«
Waiden lächelte schwach; er zog es vor, nicht daran erinnert zu werden.
Die Suppe wurde aufgetragen, und die beiden Männer aßen schweigend. Thomson nippte nur spärlich an seinem Rheinwein. Waiden mochte diesen Club. Das Essen war zwar nicht so gut wie zu Hause, aber dafür herrschte eine entspannende Atmosphäre. Die Sessel im Rauchzimmer waren alt und bequem, die Kellner alt und langsam, die Tapeten verblichen und der Verputz eintönig. Hier benutzte man immer noch Gaslicht. Männer wie Waiden kamen gern hierher, weil die Atmosphäre ungezwungener war als in ihren schmucken Herrenhäusern, in denen die Frauen das Regiment hatten.
»Sagten Sie nicht eben, Sie hätten ihn beinahe gefaßt?« fragte Waiden, als der Lachs serviert wurde.
»Ich habe Ihnen noch nicht einmal die Hälfte erzählt.«
»Aha.«
»Etwa Ende Mai erschien er im Anarchistischen Club in der Jubilee Street in Stepney. Man wußte nicht, wer er war, und er erzählte Lügengeschichten. Er ist äußerst vorsichtig – und das mit Recht, von seinem Standpunkt aus, denn einige dieser Anarchisten arbeiten für mich. Meine Spione meldeten seine Anwesenheit, aber die Information gelangte nicht bis zu mir, weil man ihn zu dieser Zeit noch für harmlos hielt. Angeblich schrieb er an einem Buch, dann stahl er eine Pistole und verschwand.«
»Natürlich ohne eine Adresse zu hinterlassen.«
»Ganz richtig.«
»Ein aalglatter Bursche.«
Ein Kellner nahm ihre Teller fort und erkundigte sich:
»Wünschen die Herren eine Scheibe Braten? Wir haben heute Hammel.«
Sie nahmen beide Hammelbraten mit Preißelbeergelee, gebackene Kartoffeln und Spargel.
Thomson fuhr fort: »Er kaufte die Bestandteile seines Nitroglyzerins in vier verschiedenen Läden in Camden Town. Wir haben dort in allen Geschäften Erkundigungen eingezogen.« Er führte einen Bissen Hammelbraten zum Mund.
»Und?« fragte Waiden ungeduldig.
»Er hat in der Cork Street neunzehn, in Camden, bei einer Witwe namens Bridget Callahan gewohnt.«
»Aber er ist wieder umgezogen.«
»Jawohl.«
»Verdammt noch mal, Thomson, sehen Sie denn nicht, daß dieser Bursche schlauer ist als Sie?«
Thomson blickte ihn kühl an und sagte nichts.
Waiden entschuldigte sich: »Ich bitte um Verzeihung; das war unhöflich von mir, aber dieser Kerl bringt mich völlig durcheinander.«
Thomson fuhr fort: »Mrs. Callahan behauptet, sie habe Felix hinausgeworfen, weil er ihr verdächtig vorkam.«
»Warum hat sie ihn nicht der Polizei gemeldet?«
Thomson aß seine Scheibe Braten auf und legte Messer und Gabel nieder. »Sie behauptet, keinen triftigen Grund dafür gehabt zu haben. Das schien mir verdächtig, und deshalb habe ich Erkundigungen über sie eingezogen. Ihr Mann war ein irischer Rebell. Falls sie wußte, was unser Freund Felix vorhatte, könnte sie sehr gut mit ihm sympathisiert haben.«
Waiden hörte es nicht gern, daß Thomson Felix »unseren Freund« nannte. Er fragte: »Weiß sie Ihrer Meinung nach, wohin der Mann gezogen ist?«
»Falls sie es weiß, wird sie es nicht sagen. Aber ich kann mir nicht denken, warum er es ihr erzählt haben sollte. Unsere einzige Chance ist, daß er sie eines Tages besucht.«
»Halten Sie das Haus unter Bewachung?«
»Ganz unauffällig. Einer meiner Leute ist bei ihr als Untermieter in das Kellerzimmer gezogen. Übrigens fand er dort einen Glasstab, wie man ihn in chemischen Laboratorien benutzt. Offenbar hat Felix sein Nitroglyzerin im Waschbecken
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