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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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setzte er sich ans Fenster und rauchte seine Zigarre zu Ende.
    Er fühlte das Bedürfnis, mit jemandem zu sprechen, und schaute auf seine Uhr. Lydia mußte ihr Mittagsschläfchen beendet haben und zog sich jetzt sicher ein Kleid an, um ihren Teebesuch empfangen zu können. Er ging durch die Verbindungstür in ihr Zimmer.
    Sie war im Morgenrock und saß vor dem Spiegel. Sie sieht abgespannt aus, stellte er fest. Das kommt von all dem Ärger. Er legte ihr die Hände auf die Schultern, blickte ihr Spiegelbild an und küßte sie auf den Kopf. »Felix Kschessinsky.«
    »Was?« Sie schien erschrocken.
    »Das ist der Name unseres Mörders. Sagt er dir etwas?«
    »Nein.«
    »Es war mir, als erinnertest du dich.«
    »Ich … ich muß ihn irgendwann einmal gehört haben.«
    »Basil Thomson hat alles über diesen Kerl herausbekommen. Er ist ein Killer, ein durch und durch böser Mensch. Es ist nicht unmöglich, daß du ihm in St. Petersburg einmal begegnet bist – das würde erklären, warum er dir bekannt vorkam, als er hier vorsprach, und vielleicht erinnerst du dich deshalb an seinen Namen.«
    »Ja . so muß es sein.«
    Waiden trat ans Fenster und blickte auf den Park. Um diese Tageszeit machten die Kindermädchen ihren Nachmittagsspaziergang. Die Wege waren voller Kinderwagen und alle Bänke von plaudernden Frauen in unmodernen Kleidern besetzt. Es fiel Waiden ein, daß Lydia in St. Petersburg eine Verbindung zu Felix gehabt haben könnte – die sie inzwischen nicht mehr eingestehen mochte. Der Gedanke war beschämend, und er wies ihn von sich. Er sagte:
    »Thomson meint, Felix könne versuchen, mich zu entführen, nachdem er jetzt weiß, daß wir Alex versteckt haben.«
    Lydia erhob sich von ihrem Stuhl und kam auf ihn zu. Sie umarmte ihn und schmiegte den Kopf an seine Brust, sagte aber kein einziges Wort.
    Waiden streichelte ihr Haar. »Ich darf jetzt nur noch meinen eigenen Wagen benutzen, und Pritchard soll eine Pistole bei sich tragen.«
    Sie blickte zu ihm auf, und er sah zu seiner Überraschung, daß ihre grauen Augen voller Tränen waren. Sie sagte: »Warum geschieht das gerade uns? Zuerst gerät Charlotte in eine Straßenschlägerei, und dann wirst du bedroht . wir scheinen plötzlich alle in Lebensgefahr zu schweben.«
    »Unsinn. Du bist in keiner Weise gefährdet, und Charlotte ist lediglich ein dummes kleines Mädchen. Was mich betrifft – ich bin gut beschützt.« Er fuhr ihr über die Hüften, fühlte die Wärme ihres Körpers durch den dünnen Morgenrock – sie trug kein Korsett. Er wollte sie lieben, hier und jetzt gleich. Sie hatten es noch nie bei Tageslicht getan.
    Er küßte ihren Mund. Sie preßte ihren Körper an den seinen, und er spürte, daß auch ihr nach Liebe zumute war. Er konnte sich nicht erinnern, sie je so gesehen zu haben. Er blickte zur Tür, wollte sie verriegeln. Er schaute sie an, und sie nickte ihm fast unmerklich zu. Eine Träne lief ihr über die Nase. Waiden ging zur Tür.
    Jemand klopfte.
    »Verdammt!« sagte Waiden leise.
    Lydia wandte ihr Gesicht von der Tür ab und wischte sich die Augen mit dem Taschentuch.
    Pritchard trat ein. »Ich bitte Eure Lordschaft um Verzeihung. Eine dringliche telefonische Mitteilung von Mr. Basil Thomson. Sie haben den Wohnort des Mannes namens Felix aufgespürt. Falls Sie bei der Verhaftung zugegen sein wollen, wird Mr. Thomson Sie in drei Minuten hier abholen.«
    »Holen Sie mir Mantel und Hut«, befahl Waiden.

10
    A ls Felix hinausging, um sich die Morgenzeitung zu holen, schienen überall nur Kinder zu sein. Auf dem Hof tanzte eine Gruppe kleiner Mädchen einen Reigen und sang dazu. Die Knaben spielten Cricket, hatten mit Kreide ein Tor an die Wand gemalt und benutzten ein altes, fauliges Brett als Schläger. Auf der Straße schoben ältere Jungen Handkarren. Er kaufte seine Zeitung bei einem halbwüchsigen Mädchen. Als er zurück auf sein Zimmer gehen wollte, kletterte vor ihm ein nacktes Kleinkind, ein Mädchen, die Treppe hinauf und versperrte ihm den Weg. Plötzlich erhob es sich unbeholfen und taumelte zurück. Felix fing es auf und setzte es behutsam auf den Treppenabsatz. In diesem Augenblick trat aus einer offenstehenden Tür die Mutter, eine bleiche junge Frau mit fettigem Haar, die bereits wieder hochschwanger war. Sie hob das Baby auf und warf Felix einen argwöhnischen Blick zu, ehe sie in ihrem Zimmer verschwand.
    Jedesmal, wenn er sich überlegte, wie er Charlotte dazu bringen könnte, ihm Orlows Aufenthaltsort zu verraten,

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