Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Tränen aus.
Er setzte sich in das trockene Gras neben sein Fahrrad. Sie ist so schön, dachte er immer wieder. Aber er weinte nicht um das, was er gefunden, sondern um das, was er verloren hatte. Achtzehn Jahre lang war er Vater gewesen, ohne es zu wissen. Während er von Dorf zu Dorf gewandert war, im Gefängnis gesessen, in der Goldmine gearbeitet und in Bialystok Bomben gebastelt hatte, war sie aufgewachsen. Sie hatte stehen, gehen und sprechen gelernt, man hatte ihr beigebracht selbständig zu essen und sich ihre Schuhbänder zuzubinden. Sie hatte auf einer grünen Wiese unter einem Kastanienbaum gespielt, war vom Rücken eines Esels gefallen und hatte geweint. Ihr »Vater« hatte ihr ein Pony geschenkt, während Felix als Kettensträfling schuftete. Sie hatte im Sommer weiße Kleider und im Winter wollene Strümpfe getragen. Sie hatte stets russisch und englisch gesprochen. Ein anderer hatte ihr Geschichten vorgelesen, ein anderer hatte zu ihr gesagt: »Ich fange dich!« und hatte sie mit Freudengeschrei die Treppen emporgejagt; ein anderer hatte sie gelehrt, das Händchen zu geben und »guten Tag« zu sagen; ein anderer hatte sie gebadet, ihr das Haar gebürstet, ihr zugeredet, ihren Kohl aufzuessen. Felix hatte oft die russischen Bauern mit ihren Kindern beobachtet und sich gefragt, wie sie es in ihrem Leben voller Elend und Armut fertigbrachten, so viel Zuneigung und Zärtlichkeit für die Kinder aufzubringen, die ihnen das Brot wegaßen. Jetzt wußte er es: Die Liebe kam von selbst, ob man sie wünschte oder nicht. Aus seinen Erinnerungen an die Kinder anderer Leute war es ihm möglich, sich Charlotte in den verschiedenen Phasen ihrer Entwicklung vorzustellen: Als Kleinkind mit hervortretendem Bauch; als ungestüme Siebenjährige, mit aufgeschürften Knien und zerrissenem Kleid; als ein schlaksiges, unbeholfenes Mädchen von zehn, mit Tintenfingern und stets etwas zu kurzen Kleidern; als schüchterne Halbwüchsige, die über die Jungen kichert, heimlich das Parfüm ihrer Mutter probiert und auf Pferde versessen ist, und dann …
Und dann diese schöne, tapfere, muntere, wißbegierige junge Frau. Und ich bin ihr Vater, dachte er.
Ihr Vater!
Was hatte sie zu ihm gesagt? Sie sind der interessanteste Mensch, dem ich je begegnet bin – können wir uns Wiedersehen? Er hatte sich gerade auf einen Abschied für immer gefaßt gemacht. Als er merkte, daß es dazu nicht kam, hatte er die Selbstbeherrschung verloren. Und sie hatte geglaubt, er habe sich erkältet.
Ich werde rührselig, stellte er fest. Ich muß mich zusammennehmen.
Er stand auf und griff nach seinem Fahrrad. Er wischte sich das Gesicht mit dem Taschentuch ab, das sie ihm gegeben hatte.
In einer Ecke war eine Glockenblume eingestickt, und er fragte sich, ob sie es selbst getan hatte. Er stieg auf das Fahrrad und fuhr zur Old Kent Road.
Es war Abendessenszeit, aber er wußte, daß er nichts essen konnte. Das kam ihm gerade recht, denn er hatte nicht mehr viel Geld, und heute abend war ihm nicht nach Stehlen zumute. Er freute sich jetzt auf die Dunkelheit seiner Bodenkammer, in der er die Nacht allein mit seinen Gedanken verbringen konnte. Er nahm sich vor, jede Minute dieser Begegnung noch einmal zu erleben, vom Augenblick, da sie aus dem Haus getreten war bis zu ihrem letzten Winken.
Er hätte gerne eine Flasche Wodka zur Begleitung gehabt, aber er konnte sich keine leisten.
Er fragte sich, ob jemand Charlotte einmal einen roten Ball geschenkt hatte.
Der Abend war milde, aber die Stadtluft stickig. Die Kneipen der Old Kent Road füllten sich bereits mit Arbeiterfrauen in bunten Sommerkleidern, begleitet von ihren Ehemännern, Freiern oder Vätern. Einer plötzlichen Eingebung folgend, blieb Felix vor einer offenen Tür stehen. Von drinnen ertönten die Klänge eines alten Klaviers. Felix dachte: Ich möchte, daß mir jemand zulächelt, selbst wenn es nur eine Kellnerin ist. Ein Glas Bier kann ich mir leisten. Er band sein Fahrrad fest und trat ein.
Das Lokal war voller Menschen, Zigarettenqualm und dem typischen Bierdunst eines englischen Pubs. Obwohl es noch recht früh war, ertönten lautes Lachen und heile Frauenstimmen. Alle schienen in sehr fröhlicher Stimmung zu sein. Felix stellte fest: Niemand weiß sein Geld besser auszugeben als die Armen.
Er begab sich an die Theke. Das Klavier stimmte ein neues Lied an, und alle sangen mit.
Einst setzt’ sich ein Mädchen dem Greis auf den Schoß.
Erzähle mir etwas, los, Onkel, los!
Warum
Weitere Kostenlose Bücher