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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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würden sich jetzt mit Unterstützung Deutschlands an Serbien rächen. Die Russen würden protestieren. Aber würde Rußland mobil machen? Höchstwahrscheinlich – wenn England den Zaren unterstützte. Russische Mobilmachung bedeutete aber auch deutsche Mobilmachung, und waren die Deutschen einmal dabei, so konnte niemand ihre Generäle mehr daran hindern, den Krieg zu entfesseln.
    Felix entzifferte mühsam die verschrobenen Sätze der übrigen Berichte, die sich auf das Attentat bezogen. Da fanden sich Schlagzeilen wie OFFIZIELLER BERICHT ÜBER DAS VERBRECHEN – KAISER VON ÖSTERREICH UND DIE JÜNGSTEN EREIGNISSE – TRAGÖDIE EINER DYNASTIE UND AM SCHAUPLATZ DES MORDES (von unserem Sonderberichterstatter). Er las eine Menge Unsinn über das Entsetzen und den Kummer überall auf der Welt und stieß wiederholt auf die Behauptung, es bestände keine Ursache zu übertriebenen Befürchtungen; der Mord sei zwar eine Tragödie, werde jedoch keine politischen Veränderungen in Europa herbeiführen. Solche Behauptungen sind typisch für die Times, dachte Felix. Ihre Redakteure würden wahrscheinlich auch die vier Reiter der Apokalypse als starke Herrscher bezeichnen, von denen nur Gutes in bezug auf die Stabilität der internationalen Lage zu erwarten sei.
    Bisher war von österreichischen Vergeltungsmaßnahmen nicht die Rede, aber daß es dazu kommen würde, stand für Felix fest. Und dann?
    Dann würde es Krieg geben.
    Rußland hat eigentlich keinen Grund, in den Krieg einzutreten, überlegte Felix voller Wut. Das gleiche traf für England zu. Kriegswütig waren nur Frankreich und Deutschland. Die Franzosen wollten seit 1871 die verlorenen Gebiete Elsaß und Lothringen zurückgewinnen, und die deutschen Generäle waren der Meinung, Deutschland sei nur eine zweitrangige Nation, solange es nicht seine militärische Macht entfalte.
    Was kann Rußland daran hindern, in den Krieg einzutreten? Ein Streit mit seinen Verbündeten. Und was kann zu einem Streit zwischen Rußland und England führen? Die Ermordung des Diplomaten Orlow?
    Wenn der Mord in Sarajewo einen Krieg entfesseln kann, so soll ein Mord in London einen Krieg verhindern.
    Und Charlotte konnte Orlow ausfindig machen.
    Wieder einmal grübelte Felix über das Dilemma nach, das ihn seit achtundvierzig Stunden quälte. Hatte der Mord an dem Erzherzog wirklich etwas geändert? Und gab ihm das das Recht, ein junges Mädchen für seine Pläne zu mißbrauchen?
    Inzwischen war es fast neun Uhr geworden. Eine kleine Gruppe von Frauen mit Wäschebündeln versammelte sich vor der Tür der Badeanstalt. Felix faltete seine Zeitung zusammen und stand auf. Er wußte, daß er Charlotte für seinen Plan benutzen würde. Er hatte das Dilemma nicht gelöst, aber eine Entscheidung getroffen. Sein Ziel war nach wie vor, Orlow umzubringen. Und dieses Ziel mußte er erreichen, auch wenn es sein Leben kostete.
    Arme Charlotte.
    Die Türen öffneten sich, und Felix betrat die Badeanstalt, um sich zu waschen.

    Charlotte hatte alles geplant. Wenn die Waidens keine Gäste hatten, aßen sie um ein Uhr zu Mittag. Spätestens um halb drei zog sich Mama in ihr Zimmer zurück, um ihren Nachmittagsschlaf zu halten. Dann konnte Charlotte sich aus dem Haus schleichen, um sich rechtzeitig um drei mit Felix zu treffen. Sie wollte eine Stunde mit ihm verbringen. Um halb fünf konnte sie bereits wieder zu Hause sein, gewaschen und umgezogen, bereit, den Tee einzugießen und mit Mama die Nachmittagsbesucher zu empfangen.
    Aber es klappte nicht. Um zwölf Uhr machte Mama ihren ganzen schönen Plan zunichte, indem sie sagte:
    »Ach, ich hatte ganz vergessen, dir mitzuteilen, daß wir heute bei der Duchess von Middlesex in ihrem Haus am Grosvenor Square zum Mittagessen eingeladen sind.«
    »Ach, du meine Güte«, sagte Charlotte. »Ich habe wirklich keine Lust, zu einer Lunchparty zu gehen.«
    »Sei doch nicht dumm, es wird dir sehr gefallen.«
    Ich habe das Falsche gesagt, stellte Charlotte fest. Ich hätte sagen sollen, ich hätte furchtbare Kopfschmerzen und könne unmöglich gehen. Es war ungeschickt von mir. Ich hätte lügen können, wenn ich es vorher gewußt hätte, aber aus dem Stegreif kann ich es nicht. Sie versuchte es noch einmal. »Es tut mir leid, Mama, aber ich möchte lieber nicht gehen.«
    »Du kommst mit und machst mir keine Dummheiten«, sagte Mama. »Ich möchte, daß die Duchess dich kennenlernt – sie kann dir einmal sehr nützlich sein. Und der Marquis von Chalfont wird auch da

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