Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
Zug zu überqueren … dann rannte er los.
    Die beiden Polizisten vom Materiallager und der eine vom MontrealHaus jagten ihn über die Schienen. Von links rief eine Stimme: »Macht die Schußlinie frei!« Die drei Verfolger machten es Waiden schwer, einen Schuß zu riskieren.
    Felix blickte über die Schulter zurück. Sie waren zurückgeblieben. Ein Schuß knallte. Er duckte sich, rannte im Zickzack. Der Zug machte einen Höllenlärm. Er hörte den Pfiff der Lokomotive. Dann noch einen Schuß. Er drehte sich plötzlich zur Seite, stolperte und fiel auf den letzten Schienenstrang. Ein furchtbarer Donner dröhnte in seinen Ohren. Er sah die Lokomotive direkt auf sich zukommen, zuckte wie in einem Krampf, schnellte hoch, rollte sich über die Schienen auf die andere Seite. Der Zug brauste an seinem Kopf vorbei. Für den Bruchteil einer Sekunde sah er das erschrockene Gesicht des Lokomotivführers.
    Er sprang auf und rannte den Bahndamm hinunter.

    Waiden stand am Zaun und beobachtete den Zug, als Basil Thomson auf ihn zukam.
    Die Polizisten auf dem Bahndamm hasteten bis zum letzten Schienenstrang, standen dann hilflos da und mußten warten, bis der Zug vorüber war. Es schien eine Ewigkeit zu dauern.
    Als er endlich vorbei war, sahen sie Felix nicht mehr.
    »Der Halunke ist uns entwischt«, sagte einer der Polizisten.
    Basil Thomson sagte: »Verdammter Mist!«
    Waiden drehte sich um und ging zum Wagen zurück.
    *
    Felix war über eine Mauer geklettert und befand sich nun in einer ärmlichen Straße mit kleinen Reihenhäusern. Aber er war auch mitten im Tor eines improvisierten Fußballplatzes. Eine Gruppe kleiner Jungen mit großen Mützen unterbrach ihr Spiel; die Burschen starrten ihn verblüfft an. Er rannte weiter.
    In wenigen Minuten mußte die Polizei über den Bahndamm sein. Sie würden nach ihm suchen, aber sie kamen zu spät. Bis sie ihre Suchaktion starteten, konnte er bereits eine halbe Meile vom Bahndamm entfernt sein.
    Er rannte weiter, bis er in eine Geschäftsstraße gelangte. Dort sprang er in einen Omnibus.
    Die Flucht war ihm gelungen, aber er war sehr besorgt. Ähnliches war ihm zwar schon einige Male in seinem Leben passiert, aber bisher hatte er nie Angst gehabt, war nie in Panik geraten. Er erinnerte sich, was er gedacht hatte, als er das Dach herunterrutschte: Ich will nicht sterben.
    In Sibirien hatte er die Fähigkeit, Furcht zu empfinden, verloren. Jetzt hatte er sie wieder. Zum erstenmal seit Jahren hatte er den Wunsch, am Leben zu bleiben. Ich bin wieder Mensch geworden, sagte er sich.
    Er schaute aus dem Fenster, sah die schmutzigen Straßen des südöstlichen London und fragte sich, ob die zerlumpten Kinder und die bleichgesichtigen Frauen ihm wohl ansahen, daß er sich wie ein neugeborener Mensch fühlte.
    Eigentlich war es eine Katastrophe. Er war jetzt weicher und zögerlicher. Der Veränderung, die in ihm vorgegangen war, verdarb seinen Stil und behinderte ihn in seiner Tätigkeit.
    Ich habe Angst, stellte er fest.
    Ich will leben.
    Ich will Charlotte wiedersehen.

11
    D er Lärm der ersten Straßenbahn weckte Felix. Er öffnete die Augen, sah sie vorbeifahren, sah die hellblauen Funken auf dem Leitungsdraht aufsprühen. Verschlafen aussehende Männer in Arbeitskleidung saßen an den Fenstern, rauchten und gähnten. Sie waren auf dem Weg zur Arbeit, wie auch die Straßenfeger, Marktträger und Straßenarbeiter.
    Die tiefstehende Sonne war grell, aber Felix lag im Schatten der Waterloo Bridge. Er hatte den Kopf an die Wand gestützt und sich mit Zeitungspapier zugedeckt. Links von ihm lag eine stinkende alte Frau mit dem roten Gesicht einer Trinkerin. Sie sah dick und fett aus, aber Felix bemerkte zwischen dem Saum ihres Kleides und dem Oberteil ihrer Männerstiefel ein paar Zentimeter schmutziger, stockdürrer weißer Beine und schloß daraus, daß ihre scheinbare Leibesfülle von den zahlreichen Kleidern herrührte, die sie übereinander trug. Felix mochte sie: In der letzten Nacht hatte sie ihm zum großen Vergnügen der übrigen Straßenpenner die saftigsten englischen Ausdrücke für verschiedene Körperteile beigebracht. Felix hatte die Worte wiederholt, und alle hatten johlend darüber gelacht. Rechts von ihm lag ein rothaariger Junge aus Schottland. Für ihn war das Schlafen im Freien ein Abenteuer. Er war zäh und drahtig, fröhlich und nett. Jetzt, da Felix sein schlafendes Gesicht sah, bemerkte er, daß er noch keinen Bartwuchs hatte. Er war eigentlich noch ein Kind. Was wird

Weitere Kostenlose Bücher