Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
sein.« Lunchpartys beginnen im allgemeinen um halb zwei und dauern bis nach drei. Ich könnte gegen halb vier zu Hause und um vier in der National Gallery sein, überlegte Charlotte. Aber bis dann hat er es bestimmt aufgegeben und ist fortgegangen, und selbst wenn er noch warten sollte, müßte ich ihn fast sofort wieder verlassen, um zum Tee wieder zu Hause zu sein. Sie wollte sich mit ihm über das Attentat unterhalten, hätte gern seine Ansicht darüber gehört. Sie hatte wirklich keine Lust, bei der alten Duchess zu Mittag zu essen und …
»Wer ist der Marquis von Chalfont?«
»Das weißt du doch! Freddy. Er ist charmant, findest du nicht auch?«
»Ach, der. Charmant? Das ist mir nicht aufgefallen.« Ich könnte ein Briefchen schreiben, an die Adresse in Camden Town, es auf den Tisch in der Halle legen, damit der Lakai es auf die Post bringt; aber Felix wohnt ja nicht dort, und er würde den Brief bestimmt nicht vor drei Uhr bekommen.
Mama sagte: »Dann schau ihn dir heute genauer an. Ich habe den Eindruck, du hast ihn behext.«
»Wen?«
»Freddy. Charlotte, du solltest wirklich etwas aufmerksamer sein, wenn ein junger Mann sich so für dich interessiert.«
Also deshalb ist sie auf diese Lunchparty so erpicht.
»Ach, Mama, sei doch nicht dumm …«
»Was ist denn dumm daran?« fragte Mama mit gereizter Stimme. »Ich habe kaum drei Worte mit ihm gesprochen.«
»Dann ist es eben nicht deine Konversation, die ihn behext hat.«
»Ich bitte dich!«
»Nun gut, ich will dich nicht necken. Geh und zieh dich um. Nimm das cremefarbene Kleid mit dem braunen Spitzenbesatz – es steht dir so gut.«
Charlotte gab nach und ging auf ihr Zimmer. Wahrscheinlich sollte ich mich wegen Freddy geschmeichelt fühlen, sagte sie sich, als sie aus ihrem Kleid schlüpfte. Warum interessieren mich all diese jungen Leute nicht? Vielleicht, weil mich im Augenblick zu viel anderes beschäftigt. Papa hat beim Frühstück gesagt, es werde Krieg geben, weil dieser Erzherzog erschossen worden ist. Aber junge Mädchen sollten sich angeblich für derartige Dinge nicht interessieren. Man erwartet, daß ich meinen ganzen Ehrgeiz daransetze, vor dem Ende meiner ersten Saison verlobt zu sein. Belinda denkt nur daran. Aber nicht alle Mädchen sind wie Belinda – man denke nur an die Frauenrechtlerinnen.
Sie zog sich an und ging hinunter. Sie setzte sich und plauderte unverbindlich mit Mama, die ein Glas Sherry trank. Dann fuhren sie zum Grosvenor Square.
Die Duchess war eine übergewichtige Frau in den Sechzigern. Sie erinnerte Charlotte an eine vermodernde Holzfregatte unter einer Schicht frischer Farbe. Der Lunch war eine richtige Gluckhennenparty. Wenn es ein Theaterstück wäre, überlegte Charlotte, hätten wir einen glutäugigen Dichter, einen diskreten Kabinettsminister, einen kultivierten jüdischen Bankier, einen Kronprinzen und mindestens eine bemerkenswert schöne Frau. Aber hier gab es an Männern, außer Freddy, nur einen Neffen der Duchess und einen konservativen Parlamentsabgeordneten. Alle Frauen wurden als die Gemahlinnen der Herren Soundso vorgestellt. Falls ich mich je verheiraten sollte, beschloß Charlotte, werde ich darauf bestehen, unter meinem eigenen Namen vorgestellt zu werden und nicht als irgend jemandes Frau.
Natürlich fiel es der Duchess schwer, interessante Partys zu geben, weil so viele Leute von ihrem Tisch verbannt waren: Alle Liberalen, alle Juden, alle Geschäftsleute, jeder, der etwas mit der Bühne zu tun hatte, alle Geschiedenen und all die vielen Leute, die irgendwann einmal gegen die Moralvorstellungen der Gastgeberin verstoßen hatten. Was da noch übrigblieb, ergab einen ziemlich langweiligen Freundeskreis.
Das beliebteste Gesprächsthema der Duchess waren jene Erscheinungen, die ihrer Meinung nach das Land zugrunde richteten. Vor allem die Subversion (Lloyd George und Churchill) und die Vulgarität (Diaghilew und die späten Impressionisten), aber auch die hohen Steuern (ein Shilling und drei Pence pro Pfund).
Heute jedoch nahm der Ruin Englands den zweiten Platz nach dem Tod des Erzherzogs ein. Der konservative Abgeordnete erklärte in einer ermüdend langen Rede, warum es keinen Krieg geben werde. Die Frau eines südamerikanischen Gesandten bemerkte in einem kleinmädchenhaften Ton, der Charlotte fast in Raserei versetzte:
»Ich verstehe einfach nicht, warum diese Nihilisten immer Bomben werfen und auf Leute schießen wollen.«
Die Duchess hatte eine Antwort darauf; ihr Arzt, so sagte
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