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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sie, habe ihr erklärt, daß alle Frauenrechtlerinnen an einer nervösen Krankheit litten, die in der medizinischen Wissenschaft als Hysterie bekannt sei, und ihrer Meinung nach litten die Revolutionäre an einer ähnlichen Krankheit, die nur bei Männern auftrete.
    Charlotte, die am Vormittag die gesamte Times Zeile für Zeile durchgelesen hatte, sagte: »Andererseits wollen die Serben vielleicht einfach nicht mehr von Österreich regiert werden.« Mama warf ihr einen strafenden Blick zu, und alle anderen starrten sie an, als sei sie wahnsinnig geworden. Auf das, was sie gesagt hatte, ging man nicht ein.
    Freddy saß neben ihr. Sein rundes Gesicht schien immer leicht zu glänzen. Er sprach mit leiser Stimme zu ihr. »Ich muß schon sagen, Sie führen ja wirklich die schandbarsten Reden.«
    »Was war denn so schandbar daran?« fragte Charlotte.
    »Nun, ich meine, das klang ja so, als ob Sie Leute guthießen, die auf Erzherzöge schießen.«
    »Ich glaube, falls die Österreicher versuchten, England zu erobern, würden auch Sie auf Erzherzöge schießen, oder vielleicht nicht?«
    »Sie sind einmalig«, sagte Freddy.
    Charlotte wandte sich von ihm ab. Sie hatte das Gefühl, ihre Stimme verloren zu haben, denn niemand schien zu hören, was sie sagte. Darüber war sie sehr verärgert.
    Inzwischen kam die Duchess wieder in ihr altes Fahrwasser. »Die niederen Klassen sind arbeitsscheu«, behauptete sie gerade, und Charlotte dachte: Und du hast in deinem ganzen Leben nicht einen einzigen Tag gearbeitet! Die Duchess fuhr fort: »Heutzutage hat jeder Arbeiter einen Gehilfen, der ihm das Werkzeug trägt. Als ob ein Mann nicht sein Werkzeug selbst tragen könnte.«
    Sie ließ sich von einem Lakaien eine Silberschüssel reichen und nahm noch einige gekochte Kartoffeln. Während sie an ihrem dritten Glas süßen Weins nippte, sagte sie, die Arbeiter tränken tagsüber so viel Bier, daß sie am Nachmittag überhaupt nichts mehr leisten könnten.
    »Heutzutage wollen die Leute sich nur noch verhätscheln und verzärteln lassen«, fuhr sie fort, als drei Lakaien und zwei Dienerinnen den dritten Gang wegräumten und den vierten auftrugen. Die Regierungen hätten schließlich Besseres zu tun, als den Leuten Armenunterstützung, Krankenversicherung und Pensionen zu bezahlen. Die Armut sei eine Ermutigung für die niederen Klassen, fleißig zu sein, und das sei eine Tugend. All das sagte sie am Ende einer Mahlzeit, die ausgereicht hätte, eine zehnköpfige Arbeiterfamilie zwei Wochen lang zu ernähren. »Die Leute müssen lernen, auf sich selbst gestellt zu sein«, fügte sie hinzu, als der Butler ihr vom Stuhl aufhalf und sie in den Salon führte.
    Charlotte kochte vor zurückgehaltener Wut. Konnte man den Revolutionären einen Vorwurf machen, wenn sie solche Leute erschossen?
    Freddy reichte ihr eine Tasse Kaffee und sagte: »Ist sie nicht ein prächtiges altes Kriegsroß?«
    Charlotte antwortete: »Ich finde, sie ist die widerlichste alte Frau, der ich je begegnet bin.«
    Freddys Gesicht verzog sich, und er zischte: »Psst!«
    Wenigstens kann niemand behaupten, daß ich ihn ermutige, sagte sich Charlotte.
    Auf der Kaminuhr schlug es mit klirrendem Geläut drei. Charlotte fühlte sich wie in einem Gefängnis. Felix erwartete sie jetzt auf den Stufen der National Gallery. Sie mußte unbedingt dieses Haus verlassen. Was soll ich hier noch, wo ich doch jetzt mit jemandem Zusammensein könnte, der vernünftig redet? dachte sie.
    Der konservative Abgeordnete sagte: »Ich muß ins Parlament zurück.« Seine Frau stand auf, um mit ihm fortzugehen. Charlotte nahm die Gelegenheit wahr.
    Sie wandte sich an die Frau und sagte mit leiser Stimme: »Ich habe etwas Kopfweh. Darf ich mit Ihnen kommen? Wenn Sie nach Westminster fahren, kommen Sie bestimmt an meinem Haus vorbei.«
    »Aber gewiß, Lady Charlotte«, sagte die Frau.
    Mama plauderte mit der Duchess. Charlotte unterbrach sie und wiederholte ihre Kopfwehgeschichte.
    »Mama möchte bestimmt noch ein bißchen bleiben, und Mrs. Shakespeare wird mich mitnehmen. Ich danke Ihnen für das schöne Mittagessen, gnädige Frau.« Die Duchess nickte königinnenhaft.
    Das ist mir ziemlich gut geglückt, stellte Charlotte erleichtert fest, als sie in die Halle und dann die Treppe hinunterging.
    Sie gab dem Kutscher der Shakespeares ihre Adresse und fügte hinzu: »Sie brauchen nicht in den Hof zu fahren – halten Sie nur draußen.«
    Unterwegs riet ihr Mrs. Shakespeare, einen Löffel Laudanum gegen die

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