Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
er tun, wenn der Winter kommt?
Sie waren etwa dreißig in einer langen Reihe auf dem Pflaster, alle mit dem Kopf an der Wand und den Füßen in Richtung Straße, zugedeckt mit Mänteln, Säcken oder Zeitungen. Felix war der erste, der sich rührte; er fragte sich, ob vielleicht einer von ihnen während der Nacht gestorben war.
Er stand auf. Die Glieder schmerzten nach der Nacht auf dem kalten Pflaster. Er trat in die Sonne hinaus. Heute sollte er sich mit Charlotte treffen. Zweifellos stank er und sah wie ein Landstreicher aus. Er überlegte, ob er sich in der Themse waschen sollte, aber der Fluß sah noch schmutziger aus als er selbst. So machte er sich auf die Suche nach einer städtischen Badeanstalt.
Er fand eine am südlichen Flußufer. Ein Plakat an der Tür gab bekannt, daß sie erst um neun Uhr öffnete. Wieder einmal typisch für eine sozialdemokratische Regierung, stellte Felix fest. Man baut eine Badeanstalt, damit die Arbeiter sich waschen können, und dann öffnet man sie erst, wenn alle bereits bei der Arbeit sind. Und dann beschwert man sich wahrscheinlich noch darüber, daß die armen Leute die von der Stadt so großzügig zur Verfügung gestellten Einrichtungen so wenig zu schätzen wissen.
Er entdeckte einen Imbiß in der Nähe des WaterlooBahnhofs und frühstückte. Die Sandwiches mit Spiegelei brachten ihn in große Versuchung, aber er konnte sie sich nicht leisten. Er nahm nur Brot und Tee und sparte das restliche Kleingeld für eine Zeitung.
Er fühlte sich besudelt nach dieser Nacht mit den Straßenpennern, und das war seltsam, denn in Sibirien war er schon froh gewesen, wenn er in einem warmen Schweinestall schlafen konnte. Andererseits durfte er sich nicht wundern, daß er jetzt anders empfand, denn er war im Begriff, sich mit seiner Tochter zu treffen, und sie würde frisch und sauber sein, nach Parfüm duften, ein seidenes Kleid, Handschuhe und einen Hut tragen und vielleicht sogar einen Sonnenschirm, um ihren feinen Teint zu schützen.
Er ging in den Bahnhof und kaufte die Times, dann setzte er sich auf eine Steinbank vor der Badeanstalt und las, während er auf die Öffnungsstunde wartete. Die Schlagzeilen trafen ihn wie ein Schock.
ÖSTERREICHISCHER THRONFOLGER UND GEMAHLIN IN BOSNIEN ERSCHOSSEN – POLITISCHES VERBRECHEN EINES STUDENTEN –ZUVOR BEREITS MISSGLÜCKTER BOMBENANSCHLAG – DER KAISER IN TRAUER.
Der österreichisch-ungarische Thronfolger Erzherzog Franz Ferdinand und seine Gemahlin, die Herzogin von Hohenberg, wurden gestern früh in Sarejewo, der Hauptstadt Bosniens, ermordet. Der Täter, ein Student der Sekundärschule, gab mehrere tödliche Schüsse auf seine Opfer ab, die gerade von einem Empfang im Rathaus zurückkehrten. Er benutzte eine automatische Pistole.
Die Mordtat war offenbar die Frucht einer sorgfältig geplanten Verschwörung. Auf dem Wege zum Rathaus waren der Erzherzog und seine Gemahlin bereits einmal knapp dem Tode entgangen. Ein Mann, den Berichten zufolge ein Drucker aus Trebinje, einer Garnisonsstadt im Süden der Herzegowina, hatte mit einer Bombe nach ihrem Motorfahrzeug geworfen. Nur wenige Einzelheiten über dieses erste Attentat wurden his jetzt bekanntgegeben. Es wird berichtet, daß der Erzherzog die Bombe mit seinem Arm abgewehrt habe, so daß sie hinter dem Wagen explodierte und dabei die Insassen des folgenden Wagens verletzte.
Der Urheber des zweiten Attentats stammt, wie ferner berichtet wird, aus Grahovo in Bosnien. Über seine Rasse und Glaubensangehörigkeit liegen bisher keine
Informationen vor. Angeblich gehört er dem serbischen oder orthodoxen Teil der bosnischen Bevölkerung an.
Beide Verbrecher konnten sofort verhaftet werden, und es war schwer, sie vor der Wut der Volksmenge zu retten.
Während sich diese Tragödie in der Hauptstadt Bosniens ereignete, befand sich der greise Kaiser Franz Joseph auf dem Weg von Wien zu seiner Sommerresidenz in Ischl. Er verließ Wien unter dem begeisterten Jubel seiner Untertanen und wurde in Ischl mit noch größerer Begeisterung empfangen.
Felix war verblüfft. Natürlich freute es ihn, daß ein weiterer nutzloser aristokratischer Schmarotzer beseitigt worden war, aber es beschämte ihn, daß ein Student es fertiggebracht hatte, den Österreichischen Thronfolger zu ermorden, während er, Felix, sich wiederholt vergeblich bemüht hatte, einen russischen Fürsten zu beseitigen. Was ihn jedoch am meisten beschäftigte, waren die politischen Auswirkungen des Attentats. Die Österreicher
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