Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Kopfschmerzen zu nehmen.
Der Kutscher tat, wie ihm geheißen, und um drei Uhr zwanzig stand Charlotte auf dem Gehsteig vor ihrem Elternhaus und sah dem abfahrenden Wagen nach. Als er verschwunden war, ging sie zum Trafalgar Square.
Sie kam etwas nach drei Uhr dreißig an und eilte die Treppe zur National Gallery empor. Sie sah Felix nicht. Er ist fortgegangen, dachte sie. Nach all der Mühe, die ich mir gemacht habe. Aber da trat er hinter einer der großen Säulen hervor, und sie war so erfreut, daß sie ihn hätte küssen können.
»Es tut mir furchtbar leid, daß ich Sie so lange habe warten lassen«, sagte sie, als sie ihm die Hand schüttelte.
»Ich wurde durch eine schreckliche Lunchparty aufgehalten.«
»Es macht nichts, denn jetzt sind Sie ja da.« Er lächelte, aber er erschien Charlotte seltsam verlegen, wie jemand, der einem Zahnarzt guten Tag sagt, bevor er sich einen Zahn ziehen läßt.
Sie gingen hinein. Charlotte liebte dieses kühle, stille Museum mit seinen Glaskuppeln, Marmorsäulen, grauen Fußböden und beigefarbenen Wänden, und mit all den Gemälden, die Farbe, Schönheit und Leidenschaft ausstrahlten. »Wenigstens haben mir meine Eltern beigebracht, wie man sich Bilder anschaut«, sagte sie.
Er wandte ihr seine dunklen Augen zu. »Es wird Krieg geben.«
Von all den Leuten, die heute von dieser Möglichkeit gesprochen hatten, schienen nur Felix und Papa ernsthaft betroffen zu sein. »Papa hat das gleiche gesagt. Aber ich verstehe nicht, warum.«
»Frankreich und Deutschland glauben, durch einen Krieg viel gewinnen zu können. Österreich, Rußland und England können mit hineingezogen werden.«
Sie gingen weiter. Felix schien sich nicht für die Gemälde zu interessieren. Charlotte fragte: »Warum sind Sie so besorgt? Werden Sie kämpfen müssen?«
»Dazu bin ich zu alt. Aber ich denke an all die Millionen unschuldiger russischer Jungen, die man von ihren Bauernhöfen holt, und die verkrüppelt oder blind heimkehren werden, falls sie nicht ohnehin ihr Leben lassen müssen. Und zwar für eine Sache, die sie nicht verstehen und die ihnen nichts bedeuten würde, wenn sie sie begriffen.«
In Charlottes Vorstellung war Krieg bisher immer eine Angelegenheit gewesen, bei der Menschen einander töteten. Für Felix dagegen war es der Krieg, der die Menschen tötete. Wie gewöhnlich zeigte er ihr die Dinge in einem neuen Licht. Sie sagte: »So hatte ich es bisher nie gesehen.«
»Der Earl of Waiden hat es auch nie auf diese Weise gesehen. Deshalb wird er es auch geschehen lassen.«
»Papa würde es bestimmt nie geschehen lassen, wenn er etwas dagegen tun könnte .«
»Da irren Sie sich«, unterbrach sie Felix. »Er trägt sogar dazu bei.«
Charlotte blickte ihn verblüfft an. »Was wollen Sie damit sagen?«
»Nur deshalb ist Fürst Orlow hier.«
Ihre Verblüffung wuchs. »Woher wissen Sie, daß Alex …?«
»Darüber weiß ich mehr als Sie. Die Polizei hat Spione bei den Anarchisten, aber die Anarchisten haben auch ihre Spione bei der Polizei. Wir erfahren vieles. Waiden und Orlow verhandeln über ein Abkommen, das dazu führen soll, Rußland auf der Seite Englands in den Krieg zu ziehen.«
Charlotte wollte gerade protestieren und sagen, Papa würde nie so etwas tun. Aber dann spürte sie, daß Felix recht hatte. Es erklärte einige Bemerkungen, die Papa und Alex ausgetauscht hatten, als Alex noch im Hause wohnte, und es erklärte, warum Papa seine Freunde durch seinen Umgang mit einem Liberalen wie Churchill so sehr schockierte.
Sie fragte: »Warum sollte er das tun?«
»Weil es ihm leider gleichgültig ist, wie viele russische Bauern umkommen, solange England Europa beherrscht.«
Ja, natürlich, Papa sieht es bestimmt so, dachte sie. »Es ist schrecklich. Aber warum sagen Sie es nicht den Leuten? Sie müßten sie aufklären – es von den Dächern schreien!«
»Wer würde auf mich hören?«
»Würde man nicht in Rußland auf Sie hören?«
»Ja, aber nur, wenn wir ein dramatisches Mittel fänden, die Menschen darauf aufmerksam zu machen.«
»Zum Beispiel?«
»Indem wir zum Beispiel Fürst Orlow entführen.«
Es klang so unglaublich, daß sie lachte. Doch dann schwieg sie plötzlich. Es fiel ihr ein, daß er vielleicht ein Spiel spielte, etwas vorgab, um seinen Standpunkt klarzumachen. Aber dann sah sie sein Gesicht und wußte, daß er es ernst meinte. Zum erstenmal fragte sie sich, ob er völlig normal sei. »Das ist doch nicht ihr Ernst«, sagte sie ungläubig.
Er
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