Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
mit der Zunge, und dann muß ich gehen.«
In jener Nacht, als Felix schlief und von Lydias Vater träumte – den er noch nie gesehen hatte –, stürmten sie mit Laternen in sein Zimmer. Er war sofort wach und sprang aus dem Bett. Zuerst glaubte er, es seien Studenten von der Universität, die ihm einen Streich spielen wollten. Dann schlug ihm einer ins Gesicht und trat ihm in die Magengrube. Da wußte er, daß es die Geheimpolizei war.
Er nahm an, man verhafte ihn wegen Lydia und machte sich furchtbare Sorgen um sie. Würde man sie öffentlich entehren? War ihr Vater verbohrt genug, sie vor Gericht zu einer Aussage gegen ihren Geliebten zu zwingen?
Er sah die Polizei all seine Bücher und Briefe in einen Sack stopfen. Die Bücher waren sämtlich ausgeliehen, aber keiner ihrer Eigentümer war so dumm gewesen, seinen Namen hineinzuschreiben. Die Briefe stammten von seinem Vater und seiner Schwester Natascha – er hatte nie Briefe von Lydia erhalten, und jetzt war er ihr dankbar dafür.
Er wurde aus dem Haus geführt und in einen Fiaker gestoßen.
Sie fuhren über die Kettenbrücke, folgten dann den Kanälen, schienen die Hauptstraßen zu meiden. Felix fragte:
»Komme ich ins Litowsky-Gefängnis?« Niemand antwortete, aber als sie über die Palastbrücke fuhren, wußte er, daß man ihn in die berüchtigte Peter-und-Pauls-Festung bringen würde, und er verlor allen Mut. Auf der anderen Seite der Brücke bog der Wagen nach links ab und fuhr in eine dunkle Gewölbepassage ein. Sie hielten vor einem Tor. Felix wurde in eine Empfangshalle geführt, wo ein Offizier der Armee ihn kurz anblickte und etwas in ein Buch eintrug. Er wurde wieder in den Fiaker gebracht und noch tiefer in die Festung gefahren. Sie hielten erneut vor einem Tor und warteten einige Minuten, bis ein Soldat es von innen öffnete. Von hier aus mußte Felix durch eine Reihe enger Gänge gehen, bis zu einem dritten eisernen Tor, das in einen großen, feuchten Raum führte.
Der Gefängnisgouverneur saß an einem Tisch. Er sagte:
»Sie stehen unter Anklage, ein Anarchist zu sein. Geben Sie es zu?«
Felix fiel ein Stein vom Herzen. Es hatte also nichts mit Lydia zu tun!
»Ob ich es zugebe?« fragte er. »Ich bin stolz darauf.«
Einer der Polizisten holte ein Buch, in das der Gouverneur seine Unterschrift setzte. Felix mußte sich ausziehen und erhielt dann einen Morgenrock aus grünem Flanell, ein Paar dicke Wollstrümpfe und zwei viel zu große gelbe Filzpantoffeln.
Anschließend führte ihn ein bewaffneter Soldat durch weitere finstere Gänge zu einer Zelle. Eine schwere Eichentür schloß sich hinter ihm, und er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloß drehte. Die Zelle enthielt ein Bett, einen Tisch, einen Schemel und einen Waschtisch. Das Fenster war eine Vertiefung in einer sehr dicken Mauer. Den Fußboden hatte man mit bemaltem Filz überzogen, und die Wände mit einer Art gelbem Möbelstoff gepolstert.
Felix setzte sich auf das Bett.
Hier hatte Peter I. seinen eigenen Sohn gefoltert und ermordet. Hier war die Fürstin Tarakanowa in einer derart von Wasser und Fäkalien überschwemmten Zelle eingesperrt gewesen, daß die Ratten ihr auf den Körper kletterten, um sich vor dem Ertrinken zu retten. Hier hatte Katharina II. ihre Feinde lebendig begraben lassen.
Dostojewski war hier in Gefangenschaft, dachte Felix mit Stolz, und auch Bakunin, den man zwei Jahre lang an eine Wand gekettet hatte. Netschajew ist hier gestorben.
Felix war begeistert, sich in so heroischer Gesellschaft zu befinden, aber gleichzeitig entsetzt bei dem Gedanken, vielleicht auf ewig hierbleiben zu müssen.
Der Schlüssel drehte sich im Schloß. Ein kleiner, kahler Mann mit Brille trat ein; er brachte einen Federhalter, eine Flasche Tinte und einige Bogen Papier.
Er legte alles auf den Tisch und sagte: »Schreiben Sie die Namen sämtlicher Umstürzler auf, die Sie kennen.«
Felix setzte sich und schrieb: »Karl Marx, Friedrich Engels, Peter Kropotkin, Jesus Christus …«
Der Kahlköpfige entriß ihm das Papier. Er ging an die Zellentür und klopfte. Zwei kräftige Gefängniswärter traten ein. Sie schnallten Felix auf den Tisch und nahmen ihm Pantoffeln und Socken ab. Dann begannen sie, ihm mit Peitschen auf die Fußsohlen zu schlagen.
Die Folter wurde während der ganzen Nacht fortgesetzt.
Als sie ihm die Fingernägel ausrissen, gab er ihnen erfundene Namen und Adressen an, aber sie merkten bald, daß es falsche Namen waren.
Als sie ihm die Haut seiner
Weitere Kostenlose Bücher