Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
Vom Netzwerk:
packte ihn der Schrecken, nicht etwa seinet-oder Alex’ wegen, sondern weil er an Lydia und Charlotte dachte. Sie hätten ums Leben kommen können, überlegte er und zitterte in seinem Bett. Er erinnerte sich, wie er vor achtzehn Jahren Charlotte in seinen Armen gehalten hatte, als sie noch ein blondes, zahnloses Baby war; er erinnerte sich, wie sie gehen gelernt hatte und dabei immer auf ihren Hintern gefallen war; er erinnerte sich, wie er ihr ihr erstes Pony geschenkt hatte, und an ihr glückstrahlendes Gesicht; und er erinnerte sich, wie sie noch vor ein paar Stunden erhobenen Hauptes als eine erwachsene, schöne Frau durch den Thronsaal geschritten war. Wenn sie gestorben wäre, dachte er, weiß ich nicht, ob ich es ertragen hätte.
    Und Lydia! Ohne Lydia wäre ich einsam und allein. Der Gedanke ließ ihn aufstehen und in ihr Zimmer gehen. Ein Nachtlicht brannte neben ihrem Bett. Sie schlief fest, lag auf dem Rücken, den Mund ein wenig geöffnet, das Haar wie ein blonder Schleier über dem Kissen. Sie sah zart und verwundbar aus. Ich habe nie vermocht, dir zu verstehen zu geben, wie sehr ich dich liebe, dachte er. Und plötzlich fühlte er das Bedürfnis, sie zu berühren, zu fühlen, daß sie warm und lebendig war. Er legte sich zu ihr ins Bett und küßte sie. Ihre Lippen reagierten, aber sie erwachte nicht.
    »O Lydia«, murmelte er, »ich könnte ohne dich nicht leben.«
    Lydia hatte lange wach gelegen und an den Mann mit dem Revolver gedacht. Es war ein brutaler Schock gewesen und sie hatte aus Angst geschrien – aber es war mehr als das. Irgend etwas an diesem Mann, seine Haltung, seine Kleidung, war ihr unheimlich erschienen, als sei er ein Gespenst gewesen. Sie wünschte, sie hätte seine Augen sehen können.
    Nach einer Weile hatte sie eine weitere Dosis Laudanum genommen, und dann war sie eingeschlafen. Sie träumte, daß der Mann mit dem Revolver in ihr Zimmer trat und sich zu ihr ins Bett legte. Es war ihr eigenes Bett, aber im Traum war sie wieder achtzehn Jahre alt. Und der Mann legte seinen Revolver auf das weiße Kopfkissen neben ihr Gesicht. Er hatte immer noch den Schal über seinem Gesicht. Sie wußte, daß sie ihn liebte. Sie küßte seine Lippen durch den Schal.
    Und dann liebte er sie auf wunderbare Art, Sie begann sich zu fragen, ob sie nicht träume. Sie wollte sein Gesicht sehen. Sie sagte: »Wer bist du?«, und eine Stimme antwortete: »Stephen«. Sie wußte, daß es nicht Stephen war, aber irgendwie hatte sich der Revolver auf dem Kopfkissen plötzlich in Stephens Schwert verwandelt, und an der Spitze war Blut, und dann kamen ihr wieder Zweifel. Sie klammerte sich an den Mann über ihr, fürchtete, der Traum werde zu Ende gehen, bevor sie befriedigt war. Und dann argwöhnte sie verschwommen, daß sie in Wirklichkeit das tat, was sie träumte, und doch träumte sie noch immer. Sie fühlte ein starkes physisches Lustgefühl in sich aufsteigen. Sie begann, die Beherrschung zu verlieren, und gerade als sie den Höhepunkt erreichte, nahm der Mann im Traum den Schal vom Gesicht. In diesem Augenblick öffnete Lydia die Augen und sah Stephens Gesicht über sich, und dann geriet sie in Ekstase, und zum erstenmal seit neunzehn Jahren schrie sie vor Sinnlichkeit.

5
    C harlotte sah Belindas erstem Ball mit gemischten Gefühlen entgegen. Sie war noch nie auf einem Ball in der Stadt gewesen, obgleich sie schon viele Landbälle mitgemacht hatte, meist in Waiden Hall. Sie tanzte gern und wußte, daß sie gut tanzte, aber sie haßte es, wie auf einem Viehmarkt mit all den Mauerblümchen aufgereiht zu sitzen und zu warten, bis ein junger Mann kam und sie zum Tanz aufforderte. Sie fragte sich, ob es in der eleganten Welt etwas zivilisierter zuging.
    Sie kamen eine halbe Stunde vor Mitternacht in Onkel Georges und Tante Clarissas Haus in Mayfair an, weil Mama der Meinung war, man könne unmöglich früher auf einem Londoner Ball erscheinen. Eine gestreifte Marquise und ein roter Teppich führten vom Bordstein zum Gartentor, das man in einen römischen Triumphbogen verwandelt hatte.
    Aber selbst hier war Charlotte noch nicht auf das gefaßt, was sie erblickte, als sie durch den Torbogen trat. Die ganze Gartenseite war in ein römisches Atrium verwandelt worden. Sie schaute sich verwundert um. Der Rasen und die Blumenbeete waren von einem hölzernen Tanzboden überdeckt, dessen schwarze und weiße Quadrate wie Marmorfliesen aussahen. Eine weiße Kolonnade, mit Lorbeerranken behangen, umgab die

Weitere Kostenlose Bücher