Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
verübt worden.«
»Besteht irgendein Grund, daß die Nihilisten und Revolutionäre es gerade auf Sie abgesehen haben?«
»Ihnen genügt es, daß ich ein Fürst bin.«
Waiden merkte jetzt, daß die Probleme des englischen Establishments mit den Frauenrechtlerinnen, den Liberalen und den Gewerkschaften im Vergleich zu dem, womit die Russen leben mußten, recht harmlos waren, und ein warmes Mitgefühl für Alex stieg in ihm auf.
Alex fuhr fort, und seine Stimme klang ruhig und beherrscht. »Allerdings bin ich, nach russischen Maßstäben, als ein Reformer bekannt. Sie könnten sich ein passenderes Opfer aussuchen.«
»Sogar in London«, stimmte Thomson ihm zu. »Während der Saison halten sich immer einige prominente russische Aristokraten hier auf.«
»Worauf wollen Sie hinaus?« fragte Waiden.
Thomson antwortete: »Ich frage mich, ob der Bursche wußte, was Fürst Orlow hier tut, und ob er nicht mit seinem Attentat von heute abend beabsichtigte, Ihre Verhandlungen zu sabotieren.«
Waiden blickte ihn zweifelnd an. »Wie sollten die Revolutionäre davon etwas erfahren haben?«
»Es ist ja nur eine Vermutung«, erwiderte Thomson.
»Aber wäre es ein wirksames Mittel, um Ihre Verhandlungen zu sabotieren?«
»Ein sehr wirksames sogar«, sagte Waiden. Bei dem Gedanken lief ihm ein kalter Schauer über den Rücken. »Falls der Zar erfahren sollte, daß einer seiner liebsten Admiräle in London von einem Revolutionär ermordet wurde – noch dazu von einem Revolutionär, der hier Asylrecht genießt –, würde er an die Decke gehen. Sie wissen ja, mein lieber Thomson, was die Russen über unsere Gastfreundschaft gegenüber ihren Umstürzlern denken – unsere Politik der offenen Tür hat seit Jahren zu Reibungen auf diplomatischer Ebene geführt. Ein derartiger Vorfall könnte die englisch-russischen Beziehungen für die nächsten zwanzig Jahre zum Erliegen bringen. Dann käme eine Militärallianz überhaupt nicht mehr in Frage.«
Thomson nickte. »Das befürchtete ich. Also gut, heute abend können wir wohl nichts mehr tun. Morgen früh, in den ersten Dämmerstunden, wird sich meine Abteilung an die Arbeit machen. Wir werden den Park nach Spuren absuchen, Ihrer Dienerschaft einige Fragen stellen und dann vermutlich einige Anarchisten im East End festnehmen und einem Verhör unterziehen.«
Alex fragte: »Glauben Sie, Sie finden den Mann?«
Waiden hoffte inständig, aber vergeblich auf eine beruhigende Antwort Thomsons. »Es wird nicht leicht sein«, sagte Thomson. »Er ist offensichtlich ein Planer und hat sicher irgendwo ein gutes Versteck. Wir besitzen keine hinlängliche Beschreibung von ihm. Falls er nicht wegen seiner Wunden in ein Krankenhaus eingeliefert wird, stehen die Chancen schlecht.«
»Er könnte es noch einmal versuchen«, sagte Alex.
»Deshalb müssen wir einige Vorsichtsmaßnahmen treffen. Ich schlage vor, daß Sie morgen aus diesem Hause ausziehen. Wir werden Sie unter falschem Namen in der obersten Etage eines Hotels einquartieren und Ihnen einen Leibwächter zur Verfügung stellen. Lord Waiden wird sich künftig geheim mit Ihnen treffen, und Sie müssen natürlich auf gesellschaftliche Verabredungen verzichten.«
»Selbstverständlich.« Thomson stand auf. »Es ist spät geworden. Ich werde mich um alles Weitere kümmern.«
Waiden klingelte nach Pritchard. »Haben Sie einen Wagen draußen, Thomson?«
»Ja. Ich werde mich morgen früh telefonisch mit Ihnen in Verbindung setzen.«
Pritchard führte Thomson hinaus, und Alex zog sich in sein Schlafzimmer zurück. Waiden ermahnte Pritchard, alle Türen sorgfältig abzuschließen, und ging dann hinauf.
Er fühlte sich nicht müde. Während er sich auszog, entspannte er ein wenig und überließ sich den widersprüchlichen Gefühlen, die er bis jetzt verdrängt hatte.
Zunächst empfand er einen gewissen Stolz: Immerhin habe ich das Schwert gezogen und den Angreifer abgewehrt; nicht schlecht für einen Mann von fünfzig Jahren und mit einem gichtkranken Bein. Dann überkam ihn Niedergeschlagenheit, als er bedachte, wie kühl und teilnahmslos sie über die diplomatischen Folgen eines Mordes an Alex gesprochen hatten – an Alex, diesem intelligenten, lebensfrohen, schüchternen, gutaussehenden und tüchtigen Jungen, den er zu einem Mann hatte heranwachsen sehen.
Er legte sich hin, blieb aber hellwach und erlebte noch einmal den Augenblick, als der Schlag des Wagens aufgerissen wurde und der Mann mit dem Revolver vor ihnen stand; und jetzt
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