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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Wahrscheinlich ist es bei den Tieren ähnlich. Und wie ist es bei den Vögeln? Nein, Vögel legen ja Eier. Und dann diese Worte! ›Penis‹ und ›Geschlechtsverkehr‹ und anscheinend noch viel Schlimmeres. All die eleganten und vornehmen Leute um sie herum kannten diese Worte, sprachen sie aber nie aus. Und weil man sie nie aussprach, waren sie so peinlich. Denn peinlich mußten sie ja sein, wenn man sie nie aussprach. Irgend etwas an der ganzen Angelegenheit war doch sehr dumm. Wenn der Schöpfer beschlossen hatte, daß die Menschen es tun sollten, warum stellten sie sich dann so, als gäbe es so etwas gar nicht?
    Sie trank ihr Glas aus und ging wieder zur Tanzfläche hinaus. Papa und Mama tanzten eine Polka und machten eine sehr gute Figur dabei. Mama war inzwischen über den Vorfall im Park hinweggekommen, aber Papa schien immer noch daran zu denken. Er sah sehr elegant aus in seinem Frack. Wenn ihm sein Bein weh tat, tanzte er nicht, aber offenbar hatte er heute abend keine Schmerzen. Für einen so großen Mann war er erstaunlich geschmeidig in seinen Bewegungen. Mama schien sich köstlich zu amüsieren. Beim Tanzen ließ sie sich immer ein bißchen gehen. Dann verschwand ihre erzwungene Reserviertheit, sie lächelte strahlend und ließ sogar ihre Knöchel sehen.
    Als die Polka vorüber war, erblickte Papa Charlotte und kam herüber. »Darf ich um diesen Tanz bitten, Lady Charlotte?«
    »Es ist mir ein Vergnügen, Eure Lordschaft.«
    Es war ein Walzer. Papa schien besorgt, aber er wirbelte sie mit Geschick auf der Tanzfläche herum. Sie fragte sich, ob sie auch so strahlend wie Mama aussah. Wahrscheinlich nicht. Plötzlich dachte sie an Papa und Mama beim Geschlechtsverkehr, und sie fand den Gedanken peinlich.
    Papa fragte: »Amüsierst du dich auch auf deinem ersten großen Ball?«
    »Ja, danke«, antwortete sie pflichtschuldigst.
    »Du siehst so nachdenklich aus.«
    »Das ist nur mein gutes Benehmen.« Die Lichter und die Farben blendeten sie, und plötzlich hatte sie Mühe, sich aufrechtzuhalten. Sie fürchtete, umfallen und sich lächerlich machen zu können. Papa fühlte sie schwanken und hielt sie ein wenig fest. Einen Augenblick später ging der Tanz zu Ende.
    Papa führte sie von der Tanzfläche. »Fühlst du dich nicht wohl?«
    »Doch, aber es war mir ein bißchen schwindlig.«
    »Hast du geraucht?«
    Charlotte lachte. »Bestimmt nicht.«
    »Das ist gewöhnlich der Grund, warum es jungen Damen auf Bällen schwindlig wird. Ich gebe dir einen Rat: Wenn du das Rauchen versuchen willst, tu es zu Hause.«
    »Ich will es gar nicht versuchen.«
    Während des nächsten Tanzes blieb sie sitzen, und dann tauchte Freddy wieder auf. Während sie mit ihm tanzte, erinnerte sie sich, daß all die jungen Leute, auch Freddy und sie selbst, angeblich auf den Bällen der Saison nach passenden Ehepartnern ausschauen sollten. Zum erstenmal sah sie in Freddy einen möglichen Ehemann. Es schien ihr undenkbar.
    Aber was für einen Mann wünsche ich mir eigentlich? fragte sie sich. Sie hatte keine Ahnung.
    Freddy sagte: »Jonathan hat uns zwar vorgestellt, aber nur bei unseren Vornamen. Ich nehme an, daß Sie Lady Charlotte Waiden sind.«
    »Ja. Und wer sind Sie?«
    »Ich bin der Marquis von Chalfont.«
    Sieh mal an, dachte Charlotte, wir sind also gesellschaftlich durchaus ebenbürtig.
    Ein wenig später kamen sie und Freddy ins Gespräch mit Belinda und Freddys Freunden. Sie unterhielten sich über ein neues Theaterstück, das »Pygmalion« hieß und angeblich sehr komisch, aber ziemlich ordinär sei. Die jungen Männer erzählten, sie würden zu einem Boxkampf gehen, und Belinda sagte, sie wolle mitkommen, aber dann erklärten sie alle, das käme überhaupt nicht in Frage. Sie diskutierten über Jazzmusik. Einer der jungen Leute schien ein Kenner zu sein, denn er hatte eine Zeitlang in den Vereinigten Staaten gelebt. Aber Freddy konnte diese Musik nicht ausstehen und redete ziemlich wichtigtuerisch von der »Vernegerung der Gesellschaft«. Sie tranken Kaffee, und Belinda rauchte noch eine Zigarette. Charlotte begann, sich richtig wohl zu fühlen.
    Aber dann kam Charlottes Mama und sagte: »Dein Vater und ich gehen jetzt. Sollen wir dir den Wagen zurückschicken?«
    Charlotte spürte, daß sie müde wurde. »Nein, ich komme mit«, antwortete sie. »Wie spät ist es?«
    »Vier Uhr.«
    Sie holten sich ihre Mäntel. Mama fragte: »Hast du einen schönen Abend gehabt?«
    »Ja, danke, Mama.«
    »Ich auch. Wer waren diese jungen

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