Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Tanzfläche. Hinter den Säulen, in einer Art Klostereingang, standen Bänke für die, die nicht tanzten. In der Mitte des Bodens erhob sich eine Fontäne in Form eines mit einem Delphin spielenden Knaben aus einem Marmorbassin, und das sprudelnde Wasser wurde von bunten Scheinwerfern beleuchtet. Auf dem Balkon eines Schlafzimmers der oberen Etage spielte ein Orchester Ragtime. Stechwinden und Rosengirlanden schmückten die Mauern, und große Körbe mit Begonien hingen vom Balkon herab. Ein riesiges, himmelblaues Dach aus Zeltleinwand bedeckte die ganze Fläche von den Dachrinnen des Hauses bis zur Gartenmauer.
»Es ist wie ein Wunder!« sagte Charlotte.
Papa wandte sich an seinen Bruder: »Ziemlich viele Leute, George.«
»Wir haben achthundert Personen eingeladen. Was, zum Teufel, ist euch im Park passiert?«
»Ach, es war gar nicht so schlimm, wie man erzählt.«
Papa nahm George beim Arm, und sie traten beiseite, um ihr Gespräch fortzusetzen.
Charlotte schaute sich die Gäste an. Alle Männer waren in voller Abendkleidung – Frack, weiße Binde, weiße Weste. Den jungen Leuten steht es besonders gut, oder zumindest den schlanken, fand Charlotte. Sie sahen besonders fesch aus, wenn sie tanzten. Sie betrachtete die Kleider und stellte fest, daß ihres und das ihrer Mutter zwar geschmackvoll, aber ein wenig altmodisch wirkten, mit den Wespentaillen, den Rüschen und Schleifen. Tante Clarissa trug ein langes, gerade geschnittenes, enges Kleid mit einem Rock, der ihr kaum das Tanzen erlaubte, und Belinda hatte türkische Haremshosen an.
Charlotte entdeckte, daß sie niemanden kannte. Wer wird nach Papa und Onkel George mit mir tanzen? überlegte sie. Aber dann lud Tante Clarissas jüngerer Bruder Jonathan sie zu einem Walzer ein und stellte sie danach drei jungen Männern vor, die in Oxford mit ihm studiert hatten, und jeder von ihnen tanzte mit ihr. Sie fand ihre Konversation recht eintönig: Der Tanzboden sei gut, hieß es, das Orchester ebenfalls, und dann fiel ihnen nichts mehr ein. Charlotte versuchte es mit der Frage: »Finden Sie, daß Frauen das Wahlrecht haben sollten?« Sie bekam zur Antwort: »Ganz gewiß nicht«, »keine Meinung« und »Sie sind doch nicht etwa eine von denen?«
Der letzte ihrer Partner, ein gewisser Freddy, führte sie ins Haus zum Souper. Es war ein gepflegt aussehender junger Mann mit regelmäßigen Gesichtszügen und blondem Haar – ganz hübsch, fand Charlotte. Er war am Ende seines ersten Jahres in Oxford. Oxford gefällt mir, sagte er, aber er gestand zugleich, daß er sich nicht sehr für Bücher interessiere, und im Oktober wahrscheinlich nicht dorthin zurückkehren werde.
Das Innere des Hauses erstrahlte im Blumenschmuck, nicht zuletzt durch die helle elektrische Beleuchtung. Zum Souper gab es heiße und kalte Suppe, Hummer, Rebhuhn, Erdbeeren, Eis und Treibhauspfirsiche. »Überall das gleiche Essen«, bemerkte Freddy. »Die hohen Herrschaften scheinen alle bei ein und demselben Lieferanten zu bestellen.«
»Gehen Sie oft auf Bälle?« fragte Charlotte.
»Muß ich leider. Besonders während der Saison.«
Charlotte trank ein Glas Champagner, hoffte, daß es sie fröhlicher stimmte, dann verließ sie Freddy und wanderte durch eine Reihe von Empfangsräumen. In einem wurde an mehreren Tischen Bridge gespielt. Zwei ältere Herzoginnen hielten hof in einem anderen. In einem dritten spielten ältere Herren Billard, während jüngere Leute rauchten. Hier fand Charlotte Belinda mit einer Zigarette in der Hand. Charlotte hielt nichts vom Rauchen; das war etwas für Menschen mit extravaganten Allüren. Auf jeden Fall galt dies für Belinda.
»Dein Kleid ist einfach fabelhaft«, sagte Belinda.
»Ach was, das sagst du ja nur. Aber du siehst ganz toll aus. Wie hast du deine Stiefmutter überredet, dich das anziehen zu lassen?«
»Am liebsten würde sie sich selber so anziehen!«
»Sie sieht so viel jünger aus als meine Mama. Was sie ja natürlich auch ist. Und vor allem hat sie jüngere Ansichten.«
»Eine Stiefmutter ist immer etwas anders. Was ist euch denn da nach dem Empfang bei Hofe passiert?«
»Oh, das war wirklich ein Erlebnis! Ein Verrückter hat uns mit einem Revolver bedroht.«
»Deine Mama hat es mir erzählt. Hast du nicht furchtbare Angst gehabt?«
»Ich war viel zu beschäftigt und mußte Mama beruhigen.
Erst danach habe ich es mit der Angst gekriegt. Warum hast du mir im Palast gesagt, daß du mit mir sprechen mußt?«
»Ach ja. Weißt du was?« Sie
Weitere Kostenlose Bücher