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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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gewesen war, kam sie sich lächerlich vor, und das ärgerte sie.
    Papa stand am Kamin und hielt ein Glas in der Hand. Mama saß am Flügel, spielte düstere Moll-Akkorde und machte ein leidendes Gesicht. Sie hatten die Vorhänge zurückgezogen. Das Zimmer bot einen seltsamen Anblick in dieser Morgenstunde, mit den Zigarettenstummeln von gestern in den Aschenbechern und dem kalten Dämmerlicht, das überall lange Schatten warf. Es war ein Abendzimmer, brauchte Lampenlicht und Wärme, Getränke und Lakaien und eine Menge Menschen mit fröhlichem Geplauder.
    Heute sah alles anders aus.
    »Nun denn, Charlotte«, begann Papa. »Du verstehst nicht, was für eine Art von Mädchen Annie ist. Du weißt, daß wir sie nicht ohne Grund entlassen haben. Sie hat etwas Unrechtes getan, das ich dir nicht erklären kann .«
    »Ich weiß, was sie getan hat«, sagte Charlotte und setzte sich. »Ich weiß auch mit wem. Mit einem Gärtnergehilfen namens Jimmy.« Mama war sprachlos.
    Papa sagte: »Ich glaube, du hast keine Ahnung, wovon du redest.«
    »Und wessen Schuld ist es, wenn ich keine Ahnung habe?« platzte Charlotte heraus. »Ich bin jetzt achtzehn Jahre alt, und niemand hat mir je erzählt, daß es Menschen gibt, die so arm sind, daß sie auf der Straße schlafen müssen, daß man ein Hausmädchen entläßt, bloß weil es ein Kind erwartet, und daß . daß . Männer nicht wie Frauen gewachsen sind. Und jetzt erzählt mir nur nicht, daß ich von all diesen Dingen nichts verstünde und noch viel zu lernen hätte! Ich habe mein ganzes Leben mit Lernen verbracht, und jetzt entdecke ich, daß das meiste davon Lügen waren! Wie konntet ihr nur! Wie konntet ihr nur!« Sie brach in Tränen aus und war wütend auf sich, weil sie die Beherrschung verlor.
    Sie hörte Mama sagen: »Mein Gott, das ist doch wirklich lächerlich.«
    Papa setzte sich neben sie und nahm ihre Hand. »Es tut mir leid, daß du so denkst«, sagte er. »Alle jungen Mädchen werden über gewisse Dinge in Unwissenheit gehalten. Das geschieht nur zu ihrem Guten. Wir haben dich nie belogen. Wenn wir dich nicht wissen ließen, wie grausam und roh die Welt ist, so taten wir es nur, weil wir wollten, daß du deine Kindheit so lange wie möglich genießt. Vielleicht war das ein Fehler.«
    Mama fuhr sie an: »Wir wollten dir die Schwierigkeiten ersparen, in die Annie geraten ist!«
    »So würde ich es nun wieder nicht sagen«, entgegnete Papa mit sanfter Stimme.
    Charlottes Wut verflog. Sie fühlte sich wieder wie ein Kind. Am liebsten hätte sie den Kopf an Papas Schulter gekuschelt, aber das ließ ihr Stolz nicht zu.
    »Wollen wir jetzt einander verzeihen und wieder Freunde sein?« fragte Papa.
    Eine Idee, die Charlotte schon vorher gekommen war, fiel ihr plötzlich wieder ein, und sie äußerte sie spontan:
    »Wärt ihr einverstanden, wenn Annie meine persönliche Zofe würde?« Papa räusperte sich. »Nun …«
    »Wir denken nicht daran!« erwiderte Mama hysterisch.
    »Das kommt überhaupt nicht in Frage! Die achtzehnjährige Tochter eines Grafen mit einer Zofe, die ein verkommenes Subjekt ist! Nein, und ein für allemal nein!«
    »Was soll sie denn dann tun?« fragte Charlotte ruhig.
    »Daran hätte sie denken können, als sie . sie hätte eben vorher daran denken müssen.«
    Papa sagte: »Charlotte, wir können unmöglich eine Frau von schlechtem Charakter in unserem Hause wohnen lassen. Selbst wenn ich es erlaubte, würde die Dienerschaft daran Anstoß nehmen. Die Hälfte von ihnen würde kündigen. Schon jetzt wird es Gerede geben, nur weil wir dem Mädchen gestatteten, die Küche zu betreten. Du siehst, es sind nicht nur Mama und ich, die solche Leute meiden – es ist die gesamte Gesellschaft.« »Dann werde ich ihr ein Haus kaufen«, sagte Charlotte, »und ihr monatlich Geld geben und ihre Freundin sein.«
    »Du hast kein Geld«, sagte Mama.
    »Mein russischer Großvater hat mir etwas hinterlassen.«
    Papa sagte: »Aber dieses Geld ist in meiner Obhut, bis du das Alter von einundzwanzig Jahren erreicht hast, und ich werde nicht zulassen, daß es für diesen Zweck verwendet wird.«
    »Aber was soll denn mit ihr geschehen?« fragte Charlotte verzweifelt.
    »Ich schlage dir ein Geschäft vor«, sagte Papa. »Ich gebe ihr Geld für eine anständige Unterkunft und werde sehen, daß sie Arbeit in einer Fabrik bekommt.«
    »Und was wäre meine Gegenleistung?«
    »Du mußt mir versprechen, keinen Kontakt mit ihr aufzunehmen, und das für immer.«
    Charlotte fühlte sich

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