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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Monaten war Annie Hausmädchen in Waiden Hall gewesen, in einem schmucken, sauberen Uniformkleid mit einer kleinen weißen Kappe auf dem Kopf, ein hübsches Mädchen mit einem großen Busen und einem ansteckenden Lachen.
    »Annie, was ist denn mit dir passiert?«
    Annie rappelte sich auf und machte einen traurigen Knicks vor ihr. »Ach, Lady Charlotte, ich hatte gehofft, Sie einmal zu sehen, denn Sie waren immer so gut zu mir, und ich habe niemanden, an den ich mich wenden kann …«
    »Aber wie bist du in diesen Zustand geraten?«
    »Ich wurde ohne Zeugnis entlassen, gnädiges Fräulein, als man herausfand, daß ich ein Kind erwartete. Ich weiß, daß ich unrecht getan habe .«
    »Aber du bist doch nicht verheiratet!«
    »Ich hatte was mit Jimmy, dem Gärtnergehilfen .«
    Charlotte erinnerte sich an Belindas Enthüllungen und dachte, falls das wirklich alles stimmte, müßte es eigentlich auch für ein unverheiratetes Mädchen möglich sein, ein Kind zu bekommen. »Wo ist das Baby?«
    »Ich habe es verloren.«
    »Verloren?«
    »Ich meine, es kam zu früh, gnädiges Fräulein. Es wurde tot geboren.«
    »Wie schrecklich«, flüsterte Charlotte. Das war wieder etwas, das sie nicht für möglich gehalten hätte. »Und warum ist Jimmy nicht bei dir?«
    »Er ist zur See gegangen. Er hat mich wirklich geliebt, das weiß ich, aber er hatte Angst vor dem Heiraten, denn er war ja erst siebzehn …« Annie begann zu weinen.
    Charlotte hörte Papas Stimme. »Charlotte, du kommst ins Haus!« Sie drehte sich nach ihm um. Er stand am Tor in seinem Frack, den seidenen Zylinder in der Hand, und plötzlich sah sie in ihm einen spießigen, grausamen alten Mann. Sie sagte: »Das ist eine der Dienerinnen, für die du so gut sorgst.«
    Papa schaute das Mädchen an. »Annie! Was hat das zu bedeuten?«
    Annie sagte: »Jimmy ist mir davongelaufen, Eure Lordschaft, und da konnte ich nicht heiraten, und ich konnte auch keine neue Stellung finden, weil Sie mir nie ein Zeugnis gegeben haben, und ich schämte mich, zu meinen Eltern zurückzukehren, und da bin ich nach London gekommen .«
    »Um zu betteln«, unterbrach Papa sie barsch.
    »Papa!« rief Charlotte aus.
    »Das verstehst du nicht, Charlotte.«
    »Ich verstehe es nur zu gut.«
    Jetzt erschien Mama und sagte: »Charlotte, gib dich nicht mit dieser Kreatur ab!«
    »Sie ist keine Kreatur, es ist Annie.«
    »Annie!« Mamas Stimme klang schrill. »Sie ist ein gefallenes Mädchen!«
    »Das genügt mir jetzt«, sagte Papa. »In meiner Familie streitet man sich nicht auf der Straße. Kommt sofort ins Haus zurück.«
    Charlotte legte ihren Arm um Annie. »Sie braucht ein Bad, neue Kleider und ein heißes Frühstück.«
    »Sei doch nicht lächerlich!« sagte Mama. Sie reagierte fast hysterisch auf den Anblick Annies.
    »Na schön«, sagte Papa. »Bring sie in die Küche. Die Stubenmädchen sind sicher schon auf. Sage ihnen, sie sollen sich um sie kümmern. Und dann komm zu mir in den Salon.«
    »Stephen, das ist doch heller Wahnsinn …« sagte Mama.
    »Kommt jetzt hinein«, erwiderte Papa.
    Sie folgten ihm.
    Charlotte führte Annie in die Küche hinunter. Ein Mädchen putzte den Herd, ein anderes schnitt Speckscheiben für das Frühstück. Es war kurz nach fünf.
    Charlotte hatte nicht gewußt, daß die Bediensteten so früh mit der Arbeit begannen. Die beiden blickten sie erstaunt an, als sie in ihrem Ballkleid mit Annie eintrat.
    Charlotte sagte: »Das hier ist Annie. Sie hat früher bei uns in Waiden Hall gearbeitet. Sie hat Unglück gehabt, aber sie ist ein gutes Mädchen. Sie muß ein Bad nehmen. Gebt ihr neue Kleider und verbrennt ihre alten. Und dann gebt ihr ein Frühstück.«
    Einen Augenblick standen die Mädchen völlig verblüfft da, dann sagte das eine: »Wie das gnädige Fräulein wünschen.«
    »Ich sehe dich nachher, Annie«, sagte Charlotte.
    Annie faßte Charlotte beim Arm. »Oh, ich bin Ihnen so dankbar, gnädiges Fräulein.«
    Charlotte ging hinaus.
    Jetzt wird es Ärger geben, dachte sie, als sie hinaufging. Aber das machte ihr nichts mehr aus. Sie hatte fast das Gefühl, daß ihre Eltern sie verraten hatten. Wozu hatten ihr all die Jahre der guten Erziehung genützt, wenn sie in einer einzigen Nacht entdeckte, daß man ihr die allerwichtigsten Dinge des Lebens vorenthalten hatte? Gewiß, man redete sich damit heraus, daß junge Mädchen beschützt werden müßten, aber Charlotte fand das Wort Heuchelei angebrachter. Wenn sie bedachte, wie unwissend sie bis heute abend

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