Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Leute?«
»Bekannte von Jonathan.«
»Waren sie nett?«
»Zum Schluß ist die Konversation noch ganz interessant geworden.«
Papa hatte bereits den Wagen gerufen. Als sie sich von den hellen Lichtern der Party entfernten, erinnerte sich Charlotte an das, was passiert war, als sie das letzte Mal in diesem Wagen saßen, und bekam Angst.
Papa hielt Mamas Hand. Sie wirkten glücklich. Charlotte fühlte sich ausgeschlossen. Sie blickte aus dem Fenster. Vier Herren mit seidenen Zylindern kamen die Park Lane hinauf, wahrscheinlich auf dem Heimweg von einem Nachtlokal. Als der Wagen um Hyde Park Corner bog, sah Charlotte etwas Seltsames.
»Was ist das?« fragte sie.
Mama schaute hinaus. »Was ist was, mein Kind?«
»Dort auf der Straße. Es sieht aus wie Menschen.«
»Ja, es sind Menschen.«
»Und was tun sie?«
»Sie schlafen.«
Charlotte war entsetzt. Es waren acht bis zehn Personen, die, in Mäntel, Decken und Zeitungen gehüllt, an einer Mauer lagen. Sie konnte nicht erkennen, ob es Männer oder Frauen waren, aber einige dieser Bündel waren klein genug, um Kinder sein zu können. »Warum schlafen sie hier?« wollte sie wissen.
»Das weiß ich nicht, mein Kind«, sagte Mama.
Papa sagte: »Weil sie sonst nirgendwo einen Platz zum Schlafen haben, natürlich.«
»Sie haben kein Zuhause?«
»Nein.«
»Ich wußte nicht, daß es so arme Menschen gibt«, sagte Charlotte. »Wie schrecklich.« Sie dachte an all die Zimmer in Onkel Georges Haus, an all die Speisen, die den achthundert Gästen aufgetragen wurden, obgleich diese ein paar Stunden vorher zu Abend gegessen hatten, an die, vielen teuren Kleider, die sie sich in jeder Saison kauften, während diese Menschen hier unter Zeitungen schliefen. Sie sagte: »Wir sollten etwas für sie tun.«
»Wir?« sagte Papa. »Was sollten wir denn tun?«
»Häuser für sie bauen.«
»Für alle?« »Wie viele gibt es denn?«
Papa zuckte mit der Schulter. »Tausende.«
»Tausende! Ich dachte, es seien nur die wenigen dort.«
Charlotte war völlig verstört. »Könntest du nicht kleine Häuser bauen lassen?«
»Hausbesitz bringt keinen Gewinn, besonders nicht bei solchen Mietern.«
»Vielleicht solltest du es trotzdem tun.«
»Warum?«
»Weil die Starken den Schwachen helfen sollten. Das hast du selbst einmal zu Mr. Samson gesagt.« Samson war der Gutsverwalter auf Waiden Hall, und er wollte immer an den Reparaturen der verpachteten Häuser sparen.
»Wir kümmern uns schon um eine Menge Leute«, sagte Papa. »All die Diener, denen wir Gehälter bezahlen, die Pächter, die unser Land bestellen und in unseren Häusern wohnen, die Arbeiter der Firmen, in die wir unser Geld investieren, die Regierungsbeamten, die von unseren Steuergeldern bezahlt werden …«
»Das ist meiner Meinung nach keine ausreichende Entschuldigung«, unterbrach ihn Charlotte. »Diese armen Leute schlafen auf der Straße! Was werden sie im Winter tun?«
Mama fiel ihr scharf ins Wort. »Dein Papa hat es nicht nötig, sich zu entschuldigen. Er ist von adliger Geburt, und er hat seinen Besitz mit Umsicht verwaltet. Er hat ein volles Recht auf seinen Wohlstand. Diese Leute auf der Straße sind Nichtstuer, Verbrecher, Trinker und verkommene Subjekte.«
»Auch die Kinder?«
»Werde nur nicht frech! Du hast noch eine Menge zu lernen – vergiß das nicht.« »Ich sehe gerade, wie viel ich noch zu lernen habe«, erwiderte Charlotte.
Als der Wagen in den Hof ihres Hauses einbog, war Charlotte einen Blick auf eine neben dem Tor schlafende Person. Sie beschloß, sie sich aus der Nähe anzusehen.
Die Kutsche hielt vor der Eingangstür. Charles half zuerst Mama, dann Charlotte heraus. Charlotte rannte über den Hof. William wollte gerade das Tor schließen. »Einen Augenblick bitte«, rief Charlotte ihm zu.
Sie hörte Papa sagen: »Was, zum Teufel …?«
Und schon war sie draußen auf der Straße.
Die Schlafende war eine Frau. Sie lag zusammengekauert auf dem Pflaster, die Schultern an die Hofmauer gelehnt. Sie trug Männerstiefel, wollene Strümpfe, einen schmutzigen blauen Mantel und einen sehr großen, ehemals wohl recht eleganten Hut mit einem Strauß ramponierter künstlicher Blumen an der Krempe. Ihr Kopf war zur Seite geneigt, und Charlotte sah ihr Gesicht. Irgend etwas an diesem runden Gesicht und dem breiten Mund kam ihr bekannt vor. Die Frau war noch jung .
»Annie!« rief Charlotte plötzlich aus.
Die Schläferin öffnete die Augen.
Charlotte starrte sie entsetzt an. Noch vor zwei
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