Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
solche Höhen und Tiefen gegeben. Nachdem sie ihn verlassen hatte, war er, als Mönch verkleidet, durch das russische Land gezogen, um das anarchistische Evangelium zu predigen. Er sagte den Bauern, daß das Land ihnen gehöre, weil sie es bestellten; daß nur der ein Recht auf das Holz im Walde habe, der den Baum schlage; daß es niemandem zustehe, sie zu regieren, außer ihnen selbst, und daß Selbstregierung, weil sie keine Regierung sei, Anarchie heiße. Er war ein wunderbarer Prediger und machte sich viele Freunde, aber er verliebte sich nie wieder und wollte es auch nicht. Seine Predigerzeit nahm 1899 während des großen Studentenstreiks ein plötzliches Ende, als er wegen Volksaufwiegelung verhaftet und nach Sibirien geschickt wurde. Die Jahre der Wanderschaft hatten ihn bereits gegen Kälte, Hunger und Schmerz abgehärtet, aber jetzt, da er als Kettensträfling mit hölzernem Werkzeug in einer Mine nach Gold graben mußte, gezwungen war, immer weiter zu schuften, auch wenn der an ihn angekettete Mann vor Erschöpfung tot umfiel, sah, wie man Kinder und Frauen auspeitschte, – erst jetzt lernte er, was Dunkelheit, Bitternis und Verzweiflung und zuletzt auch Haß bedeuteten. In Sibirien lernte er die Gesetze des Überlebens: Stiehl oder verhungere, verstecke dich oder du wirst geschlagen, kämpfe oder stirb. Hier hatte er sich Verschlagenheit und Unbarmherzigkeit angewöhnt. Hier hatte er jenen Grundsatz der Unterdrückung kennengelernt, daß man die Opfer gegeneinander aufhetzen muß, damit sie sich nicht gegen ihre Unterdrücker wenden.
Er floh und begann dann die lange Reise in den Wahnsinn, die ein Ende nahm, als er den Polizisten tötete und feststellte, daß er sich vor nichts mehr fürchtete.
Er kehrte als ein unbestechlicher Revolutionär in die Zivilisation zurück. Es schien ihm unglaublich, daß er einst Skrupel empfunden hatte, Bombenanschläge auf die Adligen zu verüben, die an den Sträflingsminen in Sibirien Geld verdienten. Er empörte sich über die von der Regierung angezettelten Pogrome gegen die Juden im Westen und Süden Rußlands. Er fühlte sich angewidert von den Streitereien zwischen den Bolschewisten und den Menschewisten auf dem zweiten Kongreß der Sozialdemokratischen Partei. Er fand Trost in der aus Genf kommenden Zeitschrift Brot und Freiheit, deren Motto auf der Titelseite ein Zitat von Bakunin war: »Das Bedürfnis zu zerstören ist auch ein schöpferisches Bedürfnis.« Und schließlich, da er die Regierung haßte, von den Sozialisten enttäuscht und von den Anarchisten überzeugt war, zog er in die Getreidestadt Bialystok und gründete dort eine Gruppe mit dem Namen »Kampf«.
Das waren die ruhmreichen Jahre. Nie würde er den jungen Nisan Farber vergessen, der den Mühlenbesitzer am Versöhnungstag vor der Synagoge erstochen hatte. Felix hatte den Chef der Polizei erschossen. Dann verlegte er den Kampf nach St. Petersburg, wo er eine andere anarchistische Gruppe gründete, die »Unerlaubten«, mit der er das erfolgreiche Attentat auf den Großfürsten Sergeij plante. In jenem Jahr 1905 kam es in St. Petersburg zu Morden, Banküberfällen, Streiks und Aufständen. Die Revolution schien nur noch Tage entfernt.
Dann kam die Repression, und sie war wilder, wirksamer und viel blutrünstiger als alles, was die Revolutionäre je getan hatten. Die Geheimpolizei stürmte mitten in der Nacht die Wohnungen der »Unerlaubten«, und sie wurden alle verhaftet – außer Felix, der einen Polizisten tötete, einen anderen schwer verletzte und dann in die Schweiz floh, denn jetzt vermochte ihn niemand mehr aufzuhalten, weil er entschlossener und listiger, wütender und unbarmherziger denn je geworden war.
In all jenen Jahren, selbst während der ruhigen Zeit, die er dann in der Schweiz verbrachte, hatte er nie jemanden geliebt. Gewiß, es hatte Leute gegeben, die er mochte -einen Schweinehirten in Georgien, einen jüdischen Bombenbastler in Bialystok, Ulrich in Genf – aber sie verschwanden aus seinem Leben, wie sie gekommen waren. Natürlich hatte es auch Frauen gegeben. Viele Frauen ahnten seine gewaltsame Natur und schreckten vor ihm zurück. Jene, die ihn anziehend fanden, ließen dagegen nicht so schnell locker. Gelegentlich hatte er der Versuchung nachgegeben, aber es endete immer mehr oder weniger mit einer Enttäuschung. Seine Eltern waren beide tot, und seine Schwester hatte er seit zwanzig Jahren nicht mehr gesehen. Im Rückblick erschien ihm sein Leben seit der Zeit mit
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