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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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sehr müde. Papa hatte auf alles eine Antwort. Sie konnte sich nicht länger mit ihm streiten, und sie hatte nicht die Kraft, auf ihrem Wunsch zu bestehen. Sie seufzte.
    »Na schön«, sagte sie.
    »Du bist ein gutes Kind. Jetzt gehst du am besten zu ihr, sagst ihr, was abgemacht worden ist, und dann verabschiedest du dich.«
    »Ich weiß nicht, ob ich ihr in die Augen sehen kann.«
    Papa tätschelte ihre Hand. »Sie wird sehr dankbar sein, warte nur. Nachdem du mit ihr gesprochen hast, gehst du zu Bett. Ich werde mich um alle Einzelheiten kümmern.«
    Charlotte wußte nicht, ob sie gewonnen oder verloren hatte, ob Papa grausam oder gütig war, ob Annie sich gerettet oder ausgestoßen fühlen würde. »Also gut«, sagte sie resigniert. Sie wollte Papa sagen, daß sie ihn liebte, aber die Worte kamen ihr nicht über die Lippen. Einen Augenblick später stand sie auf und verließ das Zimmer.
    *
    Am Tag nach dem Fiasko wurde Felix gegen Mittag von Mrs. Callahan geweckt. Er fühlte sich sehr schwach. Mrs. Callahan stand an seinem Bett und hielt einen großen Becher in der Hand. Felix richtete sich auf und nahm ihr den Becher ab. Das Getränk schmeckte köstlich, es schien aus heißer Milch, Zucker, geschmolzener Butter und Brotstücken zu bestehen. Während er trank, machte sich Mrs. Callahan in seinem Zimmer zu schaffen, wischte Staub, rückte Tisch und Stuhl zurecht und sang dabei ein sentimentales Lied über junge Männer, die ihr Leben für Irland opferten.
    Sie ging hinaus und kam dann in Begleitung einer etwa gleichaltrigen Frau zurück, die ebenfalls Irin und außerdem Krankenschwester war. Die Frau vernähte seine Hand und wickelte ihm einen Verband um seine Schulterwunde. Felix schloß aus der Konversation, daß es sich um die Engelmacherin des Wohnviertels handelte. Mrs. Callahan erzählte ihr, Felix sei bei einer Schlägerei in einem Pub verletzt worden. Die Krankenschwester verlangte einen Shilling für den Besuch und sagte: »Sie werden nicht sterben. Aber Sie hätten sich gleich behandeln lassen sollen, dann hätten Sie nicht so viel Blut verloren. So werden Sie sich noch ein paar Tage schwach fühlen.«
    Nachdem sie gegangen war, sprach Mrs. Callahan zu ihm. Sie schien ihm zu vertrauen, denn sie erlaubte ihm, sie bei ihrem Vornamen zu nennen. Bridget Callahan war eine ziemlich dicke, gutmütige Frau von fast sechzig Jahren. Ihr Mann war in Irland in Schwierigkeiten geraten, und dann waren sie in die Anonymität Londons geflohen, wo er sich, wie sie erzählte, zu Tode getrunken hatte. Sie hatte zwei Söhne, die in New York Polizisten waren, und eine Tochter, die in Belfast arbeitete. Eine gewisse Verbitterung zeigte sich hie und da in einer spöttischwitzigen Bemerkung, die sich meist gegen die Engländer richtete.
    Während Bridget ihm erklärte, warum Irland unabhängig sein müsse, schlief er ein. Sie weckte ihn wieder am Abend und brachte ihm heiße Suppe.
    Am folgenden Tag begannen seine körperlichen Wunden schnell zu heilen, aber dafür fühlte er um so stärker den Schmerz seiner Seele. All die Verzweiflung und die Selbstvorwürfe, die er im Park empfunden hatte, als er weggelaufen war, kamen zurück. Weggelaufen! Wie konnte ihm das passieren?
    Lydia.
    Sie war jetzt Lady Waiden.
    Es wurde ihm übel bei dem Gedanken.
    Er zwang sich zu klarem, kühlem Denken.
    Er hatte gewußt, daß sie verheiratet und nach England gezogen war. Offenbar war der Engländer, den sie geheiratet hatte, ein Mann aus dem Adel und höchstwahrscheinlich einer, der sich für Rußland interessierte. Nicht minder offenbar mußte die Person, die mit Orlow verhandelte, ein Mitglied des Establishments und ein Experte in russischen Angelegenheiten sein. Ich konnte natürlich nicht erraten, daß es ein und derselbe Mann sein würde, beruhigte sich Felix, aber ich hätte die Möglichkeit in Betracht ziehen sollen.
    Der Zufall war gar nicht so erstaunlich, wie er geglaubt hatte, aber er war dennoch niederschmetternd. Felix hatte zweimal in seinem Leben vollkommenes, berauschendes Glück gekannt. Das erste Mal, als man ihm im Alter von vier Jahren – bevor seine Mutter starb – einen roten Ball geschenkt hatte. Das zweite Mal, als Lydia sich in ihn verliebte. Aber den roten Ball hatte man ihm nie weggenommen.
    Er konnte sich keine größere Glückseligkeit vorstellen als die, die er mit Lydia erlebt hatte – und auch keine grausamere Enttäuschung als die, die darauf gefolgt war. Seitdem hatte es in seinem Gefühlsleben nie mehr

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