Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Lydia wie ein langsames Hingleiten in Betäubung und Unempfindlichkeit. Kein Wunder, denn Gefangenschaft, Folter, Zwangsarbeit als Kettensträfling und die lange Flucht aus Sibirien hätte er nie überlebt, wenn seine Gefühle nicht langsam abgestumpft wären. Er machte sich nichts mehr aus sich selbst, und das – stellte er fest – war der eigentliche Grund, weshalb er keine Angst mehr kannte. Denn Angst konnte man nur um etwas haben, woraus man sich etwas machte. Er hatte es lieber so.
Seine Liebe galt nicht irgendwelchen Menschen, sie galt der Menschheit. Er empfand für die verhungernden Bauern im allgemeinen, für kranke Kinder, verängstigte Soldaten und verkrüppelte Minenarbeiter in ihrer Gesamtheit. Er haßte niemand im besonderen: nur alle Fürsten, alle Landbesitzer, alle Kapitalisten und alle Generäle.
Indem er sich mit Leib und Seele einer höheren Sache verschrieb, wußte er, daß er einem Priester glich, und zwar einem ganz besonderen Priester – seinem Vater. Er fühlte sich durch diesen Vergleich nicht mehr gedemütigt. Er bewunderte die geistige Kraft seines Vaters, wenn er auch die Sache, der er gedient hatte, verachtete. Er, Felix, hatte die richtige Sache gewählt. Sein Leben würde nicht verschleudert werden.
Das war der Felix, wie er im Laufe der Jahre geworden war, eine Persönlichkeit, die durch ein grausames Schicksal geprägt war. Was ihn an Lydias Schrei so betroffen hatte, war der Gedanke, daß es einen anderen Felix hätte geben können, einen warmherzigen, liebenden Menschen, einen Mann mit sexuellen Bedürfnissen, der fähig war, Eifersucht, Gier, Eitelkeit und Furcht zu empfinden. Würde ich lieber dieser Mann sein? fragte er sich jetzt. Dieser Mann würde sich danach sehnen, ihr in die großen grauen Augen zu blicken, ihr weiches blondes Haar zu streicheln, sie in hilfloses Kichern ausbrechen zu sehen, zu erleben, wie sie versuchte, das Pfeifen zu lernen, mit ihr über Tolstoi zu diskutieren, mit ihr Schwarzbrot und geräucherten Hering zu essen und ihr zuzuschauen, wie sie bei ihrem ersten Schluck Wodka das hübsche Gesicht zu einer Grimasse verzerrte. Dieser Mann würde verspielt sein.
Er würde auch besorgt sein, würde ständig darauf achten, daß Lydia glücklich wäre. Er würde zögern, den Hahn durchzudrücken, und fürchten, die Kugel könne abprallen und sie treffen. Es würde ihm widerstreben, ihren Neffen zu töten, falls sie den jungen Mann mochte. Ein solcher Mann wäre ein armseliger Revolutionär.
Nein, sagte er sich vor dem Einschlafen, dieser Mann möchte ich nicht sein. Er ist ja nicht einmal gefährlich.
Er träumte in der gleichen Nacht, daß er Lydia erschoß, aber als er erwachte, konnte er sich nicht mehr erinnern, ob es ihn traurig gestimmt hatte.
Am dritten Tag ging er aus. Bridget gab ihm ein Hemd und eine Jacke die einst ihrem Mann gehört hatten. Sie paßten schlecht, denn der Verstorbene war kleiner und dicker als Felix gewesen. Seine Hosen und Stiefel waren noch benutzbar, und Bridget hatte die Blutflecken abgewaschen.
Er reparierte das Fahrrad, das beim Sturz auf der Treppe Schaden genommen hatte. Er richtete ein verbogenes Rad, flickte einen zerplatzten Reifen, verklebte das aufgerissene Leder des Sattels. Dann stieg er auf und fuhr ein Stück, merkte aber gleich, daß er noch nicht kräftig genug für weitere Fahrten war. So ging er zu Fuß. Es war ein herrlicher, sonniger Tag. Bei einem Altkleiderhändler auf dem Mornington Crescent tauschte er die Jacke von Mrs. Bridgets Mann gegen eine leichtere und besser passende ein und zahlte noch einen halben Penny dazu. Er fühlte sich glücklich, als er im warmen Sommerwetter durch die Straßen von London ging. Eigentlich habe ich keinen Grund, glücklich zu sein, gestand er sich ein. Mein kluger, gut organisierter, kühner Mordplan hat sich zerschlagen, weil eine Frau schrie und ein älterer Mann ein Schwert zog. Eine Schande!
Sein einziger Trost war Bridget Callahan gewesen. Sie hatte gesehen, daß er in Schwierigkeiten war, und sie hatte ihm geholfen, ohne es sich zweimal zu überlegen. Es erinnerte ihn an die Großherzigkeit der Menschen, für die er schoß, Bomben warf und sich mit einem Schwert verletzen ließ. Und es gab ihm Kraft.
Er begab sich in den St. James’s Park und nahm seinen vertrauten Platz gegenüber dem Waidenschen Hause ein. Er blickte zu dem einst weißen Steinputz und den hohen, eleganten Fenstern hinauf. Ihr könnt mich niederschlagen, dachte er, aber ihr könnt mich
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