Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
ins Haus und stünde ihr gegenüber – was würde sie tun? Würde sie ihn hinausschmeißen? Würde sie sich sofort die Kleider vom Leibe reißen, wie sie es früher zu tun pflegte? Oder würde sie sich ganz gleichgültig verhalten, ihm begegnen, wie jemandem, den sie einmal in ihrer Jugend gekannt hatte und der ihr nichts mehr bedeutete?
Er wünschte, sie würde erschrecken, ihn verblüfft anstarren, immer noch in ihn verliebt sein, denn nur so konnte er sie dazu bringen, ihm ein Geheimnis anzuvertrauen.
Plötzlich konnte er sich nicht mehr erinnern, wie sie aussah. Das war sehr merkwürdig. Er kannte zwar ungefähr ihre Größe, wußte, daß sie weder dick noch dünn war und blondes Haar und graue Augen hatte, aber er konnte sich kein richtiges Bild von ihr machen. Wenn er sich auf ihre Nase konzentrierte, sah er sie so, wie sie ihm im blassen Abendlicht von St. Petersburg erschienen war, aber es gelang ihm nicht, sie sich klar und deutlich vorzustellen.
Er ging durch den Park und blieb zögernd vor dem Haus stehen. Es war zehn Uhr. Waren sie schon auf? Er beschloß, auf jeden Fall zu warten, bis Waiden das Haus verlassen hatte. Es fiel ihm ein, daß er Orlow in der Eingangshalle begegnen könnte – was gerade jetzt, wo er keine Waffe besaß, sehr unangenehm wäre.
In diesem Fall werde ich ihn mit bloßen Händen erwürgen, entschied er.
Er grübelte darüber nach, was Lydia in diesem Augenblick wohl tat. Wahrscheinlich zog sie sich an. Ja, dachte er, jetzt kann ich sie mir vorstellen, wie sie im Korsett vor dem Spiegel sitzt und sich ihr Haar bürstet. Oder vielleicht frühstückt sie gerade. Sicher stehen Eier, Fleisch und Fisch auf dem Tisch, aber sie wird nur ein halbes Brötchen und eine Apfelscheibe essen.
Der Wagen erschien am Eingangstor. Einige Minuten später stieg jemand ein und fuhr aus dem Hof. Felix stand auf der Straßenseite gegenüber. Plötzlich blickte er durch das Fenster Waiden geradewegs ins Gesicht, und Waiden sah ihn an. Felix hätte ihm am liebsten zugerufen: »He, Waiden, ich habe Lydia zuerst gefickt!« Aber er grinste nur und lüftete den Hut. Waiden nahm die Begrüßung kopfnickend zur Kenntnis, und der Wagen fuhr an ihm vorbei. Felix fühlte sich in Hochstimmung.
Er ging durch das Tor und über den Hof. Er sah, daß alle Fenster mit Blumen geschmückt waren, und er erinnerte sich, daß Lydia schon damals Blumen geliebt hatte. Er ging die Stufen zur Tür hinauf und zog die Klingel.
Vielleicht wird sie die Polizei rufen, überlegte er.
Einen Augenblick später öffnete ein Diener die Tür. Felix trat ein. »Guten Morgen«, sagte er.
»Guten Morgen, Sir«, antwortete der Diener.
Ich sehe also präsentabel aus. »Würden Sie mich bitte bei der Gräfin Waiden melden. Es handelt sich um eine sehr dringliche Angelegenheit. Mein Name ist Konstantin Dmitritsch Levin. Sie wird sich bestimmt von St. Petersburg her an mich erinnern.«
»Jawohl, Sir. Konstantin …?«
»Konstantin Dmitritsch Levin. Warten Sie, ich gebe Ihnen meine Karte.« Felix griff in seine Jackentasche. »Ach! Ich habe keine bei mir.«
»Das macht nichts, Sir. Konstantin Dmitritsch Levin.«
»Ja.«
»Wenn Sie die Güte haben wollen, hier einen Augenblick zu warten, werde ich mich erkundigen, ob die Frau Gräfin zu Hause ist.«
Felix nickte, und der Diener entfernte sich.
6
D er kleine Queen-Anne-Bücherschrank und -Sekretär zählte zu Lydias Lieblingsmöbelstücken im Londoner Haus. Er war zweihundert Jahre alt und bestand aus schwarzlackiertem Holz mit Goldschmuck und einer Dekoration im orientalischen Stil: Pagoden, Trauerweiden, kleine Inseln, Blumen. Ein Teil der vorderen Wand ließ sich aufklappen und diente als Schreibpult. Im Inneren fand man einige mit rotem Samt bezogene Fächer für Briefe und kleine Schubladen für Briefpapier und Federhalter. In dem leicht gewölbten unteren Teil befanden sich größere Schubladen, und der obere, etwa in Augenhöhe, war ein Bücherschrank mit einer Spiegeltür. Das alte Spiegelglas reflektierte ein verschwommenes, verzerrtes Bild des Morgenzimmers.
Auf der Schreibtischplatte lag ein unbeendeter Brief an ihre Schwester, Alex’ Mutter, in St. Petersburg. Lydias Handschrift war klein und unleserlich. Sie hatte gerade auf russisch geschrieben: »Ich weiß nicht, was ich von Charlotte denken soll«, und dann hatte sie gezögert. Sie saß da, blickte in den verschwommenen Spiegel und grübelte.
Die Saison hatte sich bisher als im schlimmsten Sinne ereignisreich
Weitere Kostenlose Bücher