Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
lange her, seit er Tränen vergossen hatte, daß sein Körper kaum mehr dazu fähig war, und so war der gefährliche Augenblick vorübergegangen. Gefühle können mir nichts mehr anhaben, redete er sich ein. Ich habe sie belogen, ihr Vertrauen in mich verraten, ich habe sie geküßt und dann sitzengelassen; ich habe sie für meinen Zweck benutzt.
Heute ist das Glück auf meiner Seite.
Er hatte seinen Revolver im Park verloren und brauchte eine neue Waffe. Für einen Mord in einem Hotelzimmer eignete sich eine Bombe am besten. Mit ihr brauchte er nicht zu zielen, denn ganz gleich, wo sie hinfiel – sie würde alle im Zimmer töten. Falls Waiden zufällig gerade bei Orlow wäre, um so besser, überlegte Felix. Dann hätte Lydia ihm sogar geholfen, ihren Mann umzubringen.
Also?
Er verdrängte sie aus seinen Gedanken und begann, über die technische Seite seines Vorhabens nachzudenken.
In einer Drogerie in Camden Town kaufte er zwei Liter einer gewöhnlichen Säure in konzentrierter Form.
Abgefüllt in zwei Literflaschen, kostete die Flüssigkeit vier Shilling und fünf Pence, einschließlich des Flaschenpfands.
Er nahm die Flaschen mit nach Hause und stellte sie auf den Fußboden seines Kellerzimmers.
Dann ging er wieder los und kaufte noch einmal zwei Liter der gleichen Säure in einem anderen Geschäft. Der Drogist fragte ihn, wofür er sie haben wolle. »Zum Saubermachen«, erklärte er, und der Mann schien sich damit zufriedenzugeben.
In einer dritten Drogerie kaufte er zwei Liter einer anderen Säure. Schließlich besorgte er sich noch einen halben Liter reines Glyzerin und einen Glasstab von dreißig Zentimetern Länge.
Er hatte sechzehn Shilling und acht Pence ausgegeben, aber er würde vier Shilling und drei Pence für die leeren Flaschen zurückbekommen. Damit blieben ihm fast drei Pfund.
Da er sich die Zutaten in verschiedenen Läden besorgt hatte, konnte keiner der Drogisten Verdacht schöpfen, daß mit ihnen Sprengstoff fabriziert werden sollte.
Er ging zu Bridget in die Küche und lieh sich ihre größte Schüssel aus.
»Wollen Sie einen Kuchen backen?« fragte sie ihn.
»Ja.«
»Sprengen Sie uns ja nicht alle in die Luft.«
»Das werde ich nicht tun.«
Immerhin war sie vorsichtig genug, den Nachmittag bei einer Nachbarin zu verbringen.
Felix ging hinunter, zog sich die Jacke aus, krempelte die Ärmel auf und wusch sich die Hände.
Er stellte die Schüssel in das Waschbecken.
Dann warf er einen Blick auf die großen braunen Flaschen mit ihren Glasstöpseln, die aufgereiht auf dem Boden standen.
Der erste Teil der Arbeit war nicht sehr gefährlich.
Er mischte die beiden verschiedenartigen Säuren in Bridgets Schüssel und wartete, bis alles gut vermengt war. Dann füllte er die Flaschen mit der Mixtur.
Er wusch die Schüssel aus, trocknete sie, stellte sie in das Waschbecken zurück und goß das Glyzerin ein.
Das Becken war mit einem Gummistöpsel an einer Kette versehen. Er steckte ihn seitlich in den Ausguß, um diesen teilweise zu verstopfen. Dann drehte er den Hahn auf. Als das Wasser fast den Rand der Mischschüssel erreicht hatte, stellte er den Hahn so ein, daß das Wasser beim Ein-und Auslaufen auf dem gleichen Niveau blieb, ohne in die Schüssel zu laufen.
Was nun kam, hatte schon mehr Anarchisten umgebracht als die Ochrana.
Er begann behutsam, die Säuremischung in das Glyzerin zu gießen und rührte dabei äußerst langsam, aber beständig mit dem Glasstab um.
Im Kellerzimmer war es sehr warm.
Gelegentlich stieg eine Spur rötlich-braunen Rauchs aus der Schüssel auf, ein Zeichen, daß die chemische Reaktion außer Kontrolle zu geraten drohte, dann setzte Felix mit dem Zugießen der Säure aus, ohne jedoch das Umrühren einzustellen, bis das fließende Wasser im Waschbecken die Schüssel genügend abgekühlt und die Reaktion vermindert hatte. Wenn die rauchenden Gase sich verzogen hatten, wartete er eine Minute oder zwei und fuhr dann mit dem Mischen fort.
So ist Ilja umgekommen, erinnerte er sich. Vielleicht war er zu ungeduldig gewesen. Als man die Trümmer weggeräumt hatte, war nichts mehr von ihm übriggeblieben, jedenfalls nichts, was man hätte beerdigen können.
Der Nachmittag ging dem Abend zu. Die Luft wurde kühler, aber Felix schwitzte trotzdem. Er hörte Kinder draußen auf der Straße, die bei ihrem Spiel einen Reim sangen: »Salz, Mostrich, Essig, Pfeffer – Salz, Mostrich, Essig, Pfeffer.« Er hätte jetzt gerne Eis gehabt. Und elektrisches Licht.
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