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Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Der Mann Aus St. Petersburg: Roman

Titel: Der Mann Aus St. Petersburg: Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ken Follett
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Leute, die der Meinung sind, Kinder sollten nicht so sehr vor Dingen geschützt werden, die man . nun . den Ernst des Lebens zu nennen pflegt. Aber von diesen Leuten gibt es nur wenige, und überdies sind sie meist schrecklich ordinär.«
    Sie schwiegen eine Weile. Wie immer brauchte Lydia eine Ewigkeit, um sich für den Abend umzuziehen. Waiden wollte Charlotte noch viel mehr sagen, aber er fürchtete, nicht den Mut dazu aufzubringen. Er überlegte sich, wie er es anstellen sollte, aber es war ihm einfach zu peinlich. Sie saß still und zufrieden neben ihm, und er fragte sich, ob sie ahnte, was in seinem Kopf vorging.
    Lydia könnte jeden Augenblick fertig sein. Also, jetzt oder nie. Er räusperte sich. »Du wirst einmal einen guten Mann heiraten, und mit ihm gemeinsam wirst du von allen möglichen Dingen erfahren, die dir jetzt noch geheimnisvoll und vielleicht ein bißchen beunruhigend erscheinen mögen.« Genügt das, fragte er sich. Soll ich aufhören, bevor ich zum Wesentlichen komme? Nein, nur Mut! »Aber eins solltest du schon im voraus wissen. Eigentlich müßte deine Mutter es dir sagen, aber ich habe das Gefühl, daß sie es vielleicht nicht tun wird, und deshalb werde ich es dir sagen.«
    Er zündete sich eine Zigarre an, nur um seine Hände zu beschäftigen. Es gab kein Zurück mehr. Er hoffte insgeheim, Lydia würde jetzt hereinkommen und dem Gespräch ein Ende setzen, aber sie kam nicht.
    »Du hast gesagt, du wüßtest, was Annie und der Gärtner taten. Nun denn … sie sind nicht verheiratet, und deshalb war es unrecht.« Er fühlte, wie sein Gesicht rot wurde, hoffte, sie würde ihn jetzt nicht anschauen. »Rein physisch ist es sehr schön«, fuhr er zögernd fort. »Unmöglich zu beschreiben, vielleicht ein bißchen wie das Gefühl, wenn man die Wärme eines Kohlefeuers verspürt . Aber die Hauptsache dabei ist – und das weißt du bestimmt noch nicht wie herrlich es in geistiger Beziehung sein kann. Irgendwie scheint es all die Zuneigung, die Zärtlichkeit und den Respekt auszudrücken und . nun ja . einfach die Liebe, die Mann und Frau zueinander empfinden. Wenn man jung ist, versteht man das nicht immer. Besonders Mädchen neigen dazu, nur das . Ordinäre darin zu sehen. Und es gibt unglückliche Menschen, die das wirklich Schöne daran nie kennenlernen. Aber wenn du darauf gefaßt bist und dir einen guten, lieben und verständigen Mann zum Gatten wählst, wird es bestimmt geschehen. Nur deshalb habe ich es dir gesagt. Ist es dir sehr peinlich?«
    Zu seiner Überraschung wandte sie ihm den Kopf zu und küßte ihn auf die Wange. »Ja, aber nicht halb so peinlich wie dir«, sagte sie. Er mußte lachen.
    Pritchard trat ein. »Eure Lordschaft, der Wagen steht bereit, und die gnädige Frau wartet in der Halle.«
    Waiden erhob sich. »Kein Wort zu Mama«, flüsterte er Charlotte zu.
    »Jetzt begreife ich, warum alle betonen, was für ein guter Mann du bist«, erwiderte Charlotte. »Und viel Vergnügen heute abend!«
    »Auf Wiedersehen«, sagte er. Als er hinausging, dachte er: Jedenfalls manchmal mache ich es richtig.

    Nach diesem Gespräch war Charlotte fast entschlossen, doch nicht zu der Frauenrechtlerinnenversammlung zu gehen.
    Sie war infolge des Zwischenfalls mit Annie in rebellischer Stimmung gewesen, als sie das Plakat am Schaufester eines Juweliergeschäfts auf der Bond Street gesehen hatte. Die Überschrift »STIMMRECHT FÜR FRAUEN« war ihr aufgefallen, und dann hatte sie bemerkt, daß der Saal, in dem die Versammlung stattfinden sollte, nicht weit von ihrem Haus entfernt war. Die Namen der Sprecherinnen waren auf dem Plakat nicht angegeben, aber Charlotte hatte in den Zeitungen gelesen, daß die berühmte Mrs. Pankhurst oft ohne Vorankündigung auf solchen Versammlungen erschien. Charlotte war stehengeblieben, um das Plakat zu lesen, und da Marya sie begleitete, hatte sie vorgegeben, sich einige Armbänder im Schaufenster anzusehen. Während sie las, kam ein Junge aus dem Laden und schickte sich an, das Plakat von der Scheibe abzukratzen. Und in dem Moment hatte sich Charlotte entschlossen, die Versammlung zu besuchen.
    Jetzt hatte Papa sie wieder unschlüssig gemacht. Es war ein Schock, ihn fehlbar, verletzlich und sogar demütig zu sehen, und sie war noch mehr überrascht, als sie ihn vom Geschlechtsverkehr reden hörte, als sei es etwas Herrliches. Sie war sich klar, daß sie gar nicht mehr innerlich vor Wut kochte, weil er sie in Unwissenheit hatte aufwachsen lassen. Plötzlich

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