Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
Recht zu behaupten.
Während Waiden und Alex diskutierten, auf welche Weise man Rußland diese Macht verschaffen könne, hatten die Deutschen die Erweiterung des Kieler Kanals beendet und waren dadurch in der Lage, ihre Kriegsschiffe aus den Gefahrenzonen der Nordsee in die Sicherheit der Ostsee zurückzuziehen. Außerdem hatten Deutschlands Goldreserven infolge der finanziellen Manöver, die Churchill im Mai zu seinem Besuch bei Waiden veranlaßten, eine Rekordhöhe erreicht. Deutschland befand sich jetzt in noch nie dagewesener Kriegsbereitschaft, und mit jedem Tag wurde eine englisch-russische Militärallianz notwendiger. Aber Alex zeigte stählerne Nerven und ließ sich nicht voreilig auf irgendwelche Konzessionen ein.
Je eingehender Waiden sich über Deutschland informierte – über seine Industrie, seine Regierung, seine Armee, seine natürlichen Bodenschätze –, desto klarer wurde ihm, daß es alle Chancen hatte, Großbritannien seinen Platz als größte Weltmacht streitig zu machen. Persönlich war es ihm ziemlich gleichgültig, ob England den ersten, zweiten oder neunten Platz einnahm, solange es nur frei war. Er liebte England. Er war stolz auf dieses Land, dessen Industrie Millionen Menschen Arbeit gab und dessen Demokratie ein Musterbeispiel für die übrige Welt war. Der Bildungsstand der Bevölkerung verbesserte sich ständig, wodurch immer mehr Menschen wahlberechtigt wurden. Selbst die Frauen könnten es früher oder später werden, vor allem, wenn sie endlich aufhörten, Fenster einzuschlagen. Er liebte die Felder und die Hügel, die Oper und das Variete, den anregenden Glanz der Metropole und den langsamen, beruhigenden Rhythmus des Landlebens. Er war stolz auf Englands Erfinder, Theaterschriftsteller, Geschäftsleute und Handwerker. England war ein verdammt guter Ort, und Waiden war nicht gewillt, es sich von den quadratköpfigen preußischen Eindringlingen kaputtmachen zu lassen -nicht, solange er etwas dagegen unternehmen konnte.
Aber es machte ihn besorgt, daß er gar nicht sicher war, etwas dagegen unternehmen zu können. Er fragte sich, in welchem Maße er wirklich das moderne England verstand, mit seinen Anarchisten und Frauenrechtlerinnen, mit seiner Regierung von jungen Feuerköpfen wie Churchill und Lloyd George, mit den noch gefährlicheren Kräften wie der immer stärker werdenden Labour Party und den mächtigen Gewerkschaften. Leute vom Schlage Waidens waren zwar immer noch tonangebend – die Frauen in der guten Gesellschaft und die Männer im politischen Establishment –, aber das Land war nicht mehr so leicht regierbar wie früher. Manchmal hatte er das deprimierende Gefühl, daß alles außer Kontrolle geriet.
Charlotte trat ein und erinnerte ihn, daß die Politik nicht das einzige Lebensgebiet war, das sich seinem Griff zu entziehen schien. Sie trug immer noch ihr Teekleid. Waiden ermahnte sie: »Wir müssen bald gehen.«
»Ich bleibe lieber zu Hause, wenn es dir nichts ausmacht«, sagte sie. »Ich habe leichte Kopfschmerzen.«
»Du bekommst aber kein warmes Essen, wenn du nicht gleich der Köchin Bescheid sagst.«
»Das brauche ich nicht. Ich lasse mir ein Tablett auf mein Zimmer kommen.«
»Du siehst etwas blaß aus. Trinke ein kleines Glas Sherry, es wird dir Appetit machen.«
»Gut.«
Sie setzte sich, und er schenkte ihr ein. Als er ihr das Glas gab, sagte er: »Annie hat jetzt Arbeit und ein neues Heim.«
»Das freut mich«, antwortete sie kalt.
Er atmete tief. »Es muß einmal gesagt sein, daß ich in dieser Angelegenheit unrecht hatte.«
»Oh« sagte Charlotte erstaunt.
Gebe ich so selten zu, daß ich unrecht habe? überlegte er. »Natürlich wußte ich nicht«, fuhr er fort, »daß ihr … junger Mann … ihr davonlief und sie sich schämte, zu ihrer Mutter zu gehen. Aber ich hätte mich erkundigen sollen. Schließlich war ich, wie du ganz richtig sagtest, für das Mädchen verantwortlich.«
Charlotte setzte sich wortlos neben ihn auf das Sofa und nahm seine Hand. Er war gerührt.
Er sagte: »Du hast ein gutes Herz, und ich hoffe, daß du immer so bleiben wirst. Vielleicht darf ich auch hoffen, daß du einmal lernst, deine großzügigen Gefühle mit etwas mehr Gleichmut auszudrücken?«
Sie schaute ihn an. »Ich werde mir Mühe geben, Papa.«
»Ich frage mich oft, ob wir dich nicht zu sehr beschützt haben. Natürlich lag die Entscheidung über deine Erziehung bei Mama, aber ich muß zugeben, daß ich fast immer mit ihr einverstanden war. Es gibt
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