Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
und sich um die Fahrkarten kümmern, die Koffer und die Verkleidungen.
Sie nahm ihren Schlüssel aus der Tasche, aber die Tür seiner Wohnung stand weit auf. Sie rief: »Felix, ich bin es!« und blieb auf der Türschwelle stehen. Alles war durcheinander, wie nach einem Raubüberfall oder einer Schlägerei. Felix war nicht da.
Plötzlich hatte sie furchtbare Angst.
Sie ging in der kleinen Wohnung auf und ab, fühlte sich benommen, blickte überflüssigerweise hinter die Vorhänge und unter das Bett. All seine Bücher waren fort. Die Matratze war zerschlitzt. Der Spiegel lag in Scherben am Boden, der Spiegel, in dem sie sich eines Nachmittags, als es draußen schneite, beim Lieben betrachtet hatten.
Lydia ging fassungslos zur Treppe. Der Mieter der Wohnung nebenan stand in seiner Tür. Lydia blickte ihn an. »Was ist passiert?« fragte sie.
»Er wurde gestern nacht verhaftet«, antwortete der Mann. Da war es ihr, als stürze der Himmel über ihr zusammen. Sie fühlte, wie ihr schwarz vor Augen wurde, und lehnte sich an die Wand. Verhaftet! Warum? Wo war er? Wer hatte ihn verhaftet? Wie konnte sie mit ihm davonlaufen, wenn er im Gefängnis war?
»Er war offenbar ein Anarchist.« Der Nachbar grinste bedeutungsvoll und fügte hinzu: »Abgesehen von dem, was er sonst vielleicht noch war.«
Es war unerträglich. Ausgerechnet an dem Tag, an dem Vater … »Vater«, flüsterte Lydia vor sich hin. »Vater hat es getan.«
»Sie sehen unwohl aus«, sagte der Nachbar. »Wollen Sie nicht hereinkommen und sich ein bißchen setzen?«
Lydia gefiel sein Gesicht nicht. Dieser schmierige Kerl, dachte sie, es war einfach nicht auszuhalten. Sie nahm sich zusammen, würdigte ihn keiner Antwort und ging langsam die Treppe hinunter. Auf der Straße schleppte sie sich mühsam voran, ohne Ziel, fragte sich, was sie tun solle. Sie mußte Felix aus dem Gefängnis befreien. Aber sie hatte keine Ahnung, wie sie das anstellen könnte. Sollte sie sich an den Innenminister wenden? Oder an den Zaren? Aber die konnte sie nur antreffen, wenn sie auf die richtigen Empfänge ging. Sie könnte schreiben – aber sie brauchte Felix heute und sofort. Könnte sie ihn im Gefängnis besuchen? Dann würde sie wenigstens wissen, wie es ihm ging, und er würde wissen, daß sie für ihn kämpfte. Vielleicht ließe sich, wenn sie elegant gekleidet in einer Kutsche vorführe, der Gefängniswärter beeindrucken . Aber sie wußte ja nicht einmal, wo das Gefängnis war – es gab bestimmt mehrere –, und sie hatte auch keinen Wagen, und falls sie nach Hause zurückkehrte, würde ihr Vater sie einschließen, und dann würde sie Felix nie wiedersehen.
Sie kämpfte mit den Tränen. Die Welt der Polizei, der Gefängnisse und Verbrecher war ihr völlig unbekannt. Wen könnte sie fragen? Felix hatte bestimmt anarchistische Freunde, die darüber Bescheid wußten, aber sie war ihnen nie begegnet und wußte nicht, wo sie zu finden waren.
Sie dachte an ihre Brüder. Max, der die Familienländereien verwaltete, würde die Angelegenheit vom Standpunkt ihres Vaters sehen und dessen Entschluß nur gutheißen. Dmitri – der hohlköpfige und effeminierte Dmitri – würde Sympathie für sie haben, ihr aber auch nicht helfen können.
Es blieb ihr nur eins: Sie mußte ihren Vater überreden, Felix wieder aus dem Gefängnis holen zu lassen.
Resigniert machte sie kehrt und begab sich auf den Heimweg. Die Wut auf ihren Vater stieg mit jedem Schritt.
Er bildete sich ein, sie zu lieben, sich um sie zu kümmern, um ihr Glück besorgt zu sein – und was hatte er getan? Versucht, ihr Leben zu zerstören. Sie wußte, was sie wollte, sie wußte, was sie glücklich machen würde. Wessen Leben war es? Wer hatte das Recht, zu entscheiden? Wutentbrannt kam sie zu Hause an.
Sie ging zum Arbeitszimmer und trat ohne anzuklopfen ein.
»Du hast ihn verhaften lassen«, schleuderte sie ihrem Vater entgegen.
»Ja«, sagte er. Seine Laune hatte sich geändert. Die Maske des Zorns war verschwunden, und jetzt blickte er sie nachdenklich und berechnend an.
Lydia fuhr fort: »Du mußt für seine sofortige Entlassung sorgen.«
»Im Augenblick wird er gefoltert.«
»Nein«, flüsterte Lydia entsetzt. »O nein.«
»Man peitscht ihm die Fußsohlen …«
Lydia schrie auf.
Ihr Vater hob die Stimme. »… mit dünnen, biegsamen Stöcken .«
Sie sah einen Brieföffner auf dem Schreibtisch.
»… die scharf und rasch in die Haut einschneiden …«
Ich werde ihn töten!
»… bis es derartig
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