Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
blutet …«
Lydia wurde rasend.
Sie griff nach dem Brieföffner und stürzte sich auf ihren Vater. Sie hob das Messer hoch in die Luft, ließ es mit aller Kraft niedersausen, zielte auf seinen mageren Nacken und schrie: »Ich hasse dich, ich hasse dich, ich hasse dich …«
Er sprang zur Seite, packte ihr Handgelenk, zwang sie, das Messer fallen zu lassen und stieß sie in einen Sessel.
Sie brach in hysterisches Schluchzen aus.
Nach einigen Minuten sprach ihr Vater wieder, ganz ruhig, als ob nichts geschehen sei. »Ich könnte die Folter sofort abbrechen lassen«, sagte er. »Ich kann die Freilassung des Jungen befehlen, wann es mir gefällt.«
»Oh, bitte«, stammelte Lydia. »Ich will auch alles tun, was du sagst.«
»Wirst du das?«
Sie blickte ihn durch ihre Tränen an. Eine neue Hoffnung besänftigte sie. Meinte er es wirklich ernst? Würde er für Felix’ Entlassung sorgen? »Alles«, sagte sie. »Alles.«
»Ich hatte einen Gast hier, während du fort warst«, sagte er im Plauderton, »den Earl of Waiden. Er bat um Erlaubnis, dich besuchen zu dürfen.«
»Wer?«
»Der Earl of Waiden. Gestern abend, als du ihn kennenlerntest, war er noch der Vicomte von Waiden, aber sein Vater starb während der Nacht, und so ist er jetzt der Earl. ›Earl‹ ist das englische Wort für ›Graf‹.«
Lydia starrte ihren Vater verständnislos an. Sie erinnerte sich, Waiden begegnet zu sein, begriff aber nicht, warum ihr Vater ihr ausgerechnet jetzt von diesem Engländer erzählte. Sie sagte: »Quäle mich nicht und sage mir endlich, was ich zu tun habe, damit Felix entlassen wird.«
»Du mußt den Earl of Waiden heiraten«, erklärte ihr Vater ohne Umschweife.
Lydia hörte auf zu weinen und starrte ihn verblüfft an. Hatte er das wirklich gesagt? Es klang völlig absurd.
Er fuhr fort: »Waiden will möglichst schnell heiraten. Du wirst Rußland verlassen und mit ihm nach England gehen. Damit wäre diese lästige Angelegenheit bald vergessen, und niemand wird davon erfahren. Es ist die ideale Lösung.«
»Und Felix?« fragte Lydia.
»Die Folter wird noch heute eingestellt werden. Am Tage deiner Abreise nach England wird der junge Mann freigelassen. Du wirst ihn nie mehr in deinem Leben wiedersehen.«
»Nein«, stammelte Lydia. »In Gottes Namen, nein.«
Acht Wochen später fand die Trauung statt.
»Du hast wirklich versucht, deinen Vater zu erstechen?« fragte Felix verwundert und amüsiert zugleich.
Lydia nickte. Sie dachte: Gott sei Dank hat er das übrige nicht erraten.
Felix sagte: »Ich bin stolz auf dich.«
»Es war schrecklich von mir.«
»Er war ein schrecklicher Mensch.«
»Heute denke ich nicht mehr so.«
Eine Pause trat ein. Dann sagte Felix mit sanfter Stimme: »Du hast mich also niemals verraten.«
Das Verlangen, ihn in ihre Arme zu nehmen, wurde fast unwiderstehlich. Sie zwang sich, still zu sitzen. Der Augenblick verging.
»Dein Vater hat Wort gehalten«, fuhr er versonnen fort. »Die Folter wurde an diesem Tage eingestellt. Und am Tage nach deiner Abreise nach England hat man mich freigelassen.«
»Woher wußtest du, daß ich nach England ging?«
»Ich erhielt eine Nachricht von deiner Zofe. Sie hatte sie in der Buchhandlung hinterlassen. Sie wußte natürlich nichts von deiner Abmachung.«
Was sie sich mitzuteilen hatten, war so überwältigend, daß sie eine Weile schweigend dasaßen. Lydia hatte immer noch Angst, sich zu bewegen. Ihr fiel auf, daß er die ganze Zeit seine rechte Hand in der Jackentasche hielt. Sie konnte sich nicht erinnern, diese Gewohnheit früher an ihm bemerkt zu haben.
»Kannst du immer noch nicht pfeifen?« fragte er.
Sie mußte lachen. »Das habe ich nie lernen können.«
Sie schwiegen wieder. Lydia wollte, daß er ging, und zugleich wünschte sie sich verzweifelt, daß er blieb.
Schließlich fragte sie ihn: »Und was hast du seitdem getan?«
Felix zuckte mit der Schulter. »Ich bin viel gereist. Und du?«
»Ich habe meine Tochter erzogen.«
Die Jahre der Trennung schienen für sie beide ein peinlicher Gesprächsstoff zu sein.
Lydia fragte: »Warum bist du hierhergekommen?«
»Ach ja …« Felix schien auf die Frage nicht gefaßt zu sein. »Ich muß Orlow sprechen.«
»Alex? Warum?«
»Ein anarchistischer Matrose sitzt im Gefängnis – und ich muß Orlow überreden, sich für seine Freilassung einzusetzen … Du weißt ja, wie die Dinge in Rußland stehen. Keine Gerechtigkeit, nur Beziehungen und Einfluß gelten etwas.«
»Alex wohnt nicht
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