Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
begriff sie seinen Standpunkt.
Aber das alles änderte nichts an der Tatsache, daß sie noch immer schrecklich unwissend war, und wenn sie wirklich die Wahrheit über die Dinge des Lebens erfahren wollte, besonders was die Frauenrechtlerinnen betraf, konnte sie sich nicht auf Mama und Papa verlassen. Ich werde hingehen, beschloß sie.
Sie klingelte Pritchard, erbat sich einen Salat auf ihr Zimmer und ging dann hinauf. Als Frau hatte man immerhin den Vorteil, daß niemand einen ausfragte, wenn man behauptete, Kopfschmerzen zu haben. Für eine Frau war es ganz natürlich, hin und wieder Kopfschmerzen zu haben.
Als das Tablett kam, stocherte sie eine Weile in dem Salat herum, bis es für die Dienstboten Zeit zum Abendessen war. Dann nahm sie Hut und Mantel und ging hinaus.
Es war ein warmer Abend. Sie ging rasch in Richtung Knightsbridge und fühlte sich dabei seltsam frei. Ihr fiel ein, daß sie noch nie ohne Begleitung durch die Straßen gegangen war. Ich könnte alles tun, dachte sie, ich habe keine Verabredungen und keine Anstandsdame. Ich könnte in einen Zug nach Schottland steigen. Ich könnte mir ein Hotelzimmer nehmen. Ich könnte mit dem Omnibus fahren. Ich könnte hier auf der Straße einen Apfel essen und den Butzen in den Rinnstein werfen.
Sie kam sich auffällig vor, aber niemand schaute sie an. Sie hatte immer das vage Gefühl gehabt, daß fremde Männer sie ansprechen und in Verlegenheit bringen würden, falls sie allein ausging. In Wirklichkeit schienen sie sie nicht einmal zu sehen. Die Männer lauerten ihr nicht auf, sie gingen alle irgendwohin, trugen ihre Abendanzüge, waren einfach gekleidet oder im Frack. Sie fragte sich, welche Gefahr es da geben konnte. Aber dann erinnerte sie sich an den Wahnsinnigen im Park und beschleunigte ihre Schritte.
Als sie sich der Versammlungshalle näherte, sah sie immer mehr Frauen in die gleiche Richtung gehen. Einige waren zu zweit oder in Gruppen, aber viele waren allein wie Charlotte. Sie fühlte sich sicherer.
Vor der Halle standen Hunderte von Frauen. Viele trugen die Farben der Frauenrechtlerinnen: Purpur, Grün und Weiß. Einige teilten Handzettel aus oder verkauften eine Zeitung namens Frauenwahlrecht. Mehrere Polizisten standen herum, blickten nervös drein oder lächelten geringschätzig. Charlotte stellte sich an, um hineinzukommen.
Als sie an der Tür war, verlangte eine Frau mit einer Armbinde sechs Pence von ihr. Charlotte drehte sich unwillkürlich um, aber dann fiel ihr ein, daß weder Marya noch ein Lakai, noch eine Zofe hinter ihr stand, um zu bezahlen. Sie war allein und hatte kein Geld. Sie hatte nicht vorausgesehen, daß sie Eintritt bezahlen müßte. Und sie war sich nicht einmal sicher, wie sie sich die sechs Pence hätte beschaffen können, wenn sie es vorausgesehen hätte.
»Es tut mir leid«, sagte sie. »Ich habe kein Geld . ich wußte nicht …« Sie wollte wieder gehen.
Die Frau hielt sie zurück. »Macht nichts«, sagte sie.
»Wenn Sie kein Geld haben, kommen Sie gratis herein.« Sie hatte einen kleinbürgerlichen Akzent, und obgleich sie freundlich war, stellte sich Charlotte vor, was sie wohl dachte: So feine Kleider – und kein Geld!
Charlotte sagte: »Ich danke Ihnen . ich werde Ihnen einen Scheck schicken …« Sie trat ein, wurde rot vor Wut auf sich selbst. Gott sei Dank habe ich nicht versucht, in einem Restaurant zu essen oder einen Zug zu nehmen, dachte sie. Sie hatte sich nie ums Geld kümmern müssen. Ihre Anstandsdame hatte immer Kleingeld bereit, Papa hatte Kreditkonten in allen Geschäften der Bond Street, und wenn sie einmal zum Lunch ins Claridge oder zum Morgenkaffee ins Cafe Royal wollte, brauchte sie nur ihre Visitenkarte auf dem Tisch zu hinterlassen, und Papa bekam dann die Rechnung zugeschickt.
Sie wählte sich einen Platz ziemlich weit vorne aus, denn sie wollte sich nichts entgehen lassen. Falls ich derartiges noch öfter tun will, überlegte sie, muß ich einen Weg finden, mir Geld zu verschaffen. Sie blickte sich um. Der Saal war voller Frauen, und man sah nur hie und da einen Mann. Die Frauen stammten meist aus der Mittelklasse, trugen eher Kattun und Baumwolle als Kaschmirwolle und Seide. Einige sahen vornehmer als der Durchschnitt aus, redeten leise, trugen aber nur wenig Schmuck und schienen – wie Charlotte – absichtlich Kleider vom vergangenen Jahr angelegt zu haben, um nicht aufzufallen. Arbeiterfrauen waren, soweit Charlotte es beurteilen konnte, nicht anwesend.
Auf dem Podium stand
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