Der Mann Aus St. Petersburg: Roman
ein Tisch, über dem das purpurgrün-weiße Banner mit der Parole »Wahlrecht für Frauen« hing. Auf dem Tisch stand ein kleines Lesepult, dahinter eine Reihe von sechs Stühlen. Charlotte dachte: All diese Frauen lehnen sich gegen die Männer auf! Sie wußte nicht, ob sie sich freuen oder schämen sollte.
Das Publikum klatschte, als fünf Frauen auf das Podium stiegen. Sie waren alle makellos, wenn auch ziemlich altmodisch gekleidet – kein einziger enger Rock, kein Glockenhut war zu sehen. Und das sollten die Leute sein, die Fenster einschlugen, Gemälde aufschlitzten und Bomben warfen? Sie sahen viel zu anständig aus.
Die Reden begannen. Sie bedeuteten Charlotte nicht viel. Es ging um Organisation, Finanzen, Gesuche, Zusatzanträge, Abstimmungen und Ersatzwahlen. Sie war enttäuscht, denn sie erfuhr überhaupt nichts von dem, was sie wissen wollte. Sollte sie zuerst Bücher lesen, bevor sie in eine Versammlung ging, um die Vorgänge zu verstehen? Nach fast einer Stunde war sie bereit, wieder fortzugehen. Aber da wurde die Sprecherin unterbrochen.
Zwei Frauen erschienen auf der Seite des Podiums. Die eine war ein athletisch aussehendes Mädchen in einem Automantel. Neben ihr und auf sie gestützt, stand eine kleine schmächtige Frau in einem blaßgrünen Frühlingsmantel und mit einem großen Hut. Die Anwesenden klatschten Beifall, und die Frauen auf dem Podium erhoben sich. Der Applaus wurde stärker, man schrie und jubelte. Jemand neben Charlotte stand auf, und Sekunden später hatten sich alle Frauen von ihren Plätzen erhoben.
Mrs. Pankhurst ging langsam auf das Lesepult zu.
Charlotte konnte sie sehr gut sehen. Sie war das, was man eine gutaussehende Frau nannte. Dunkle, tiefliegende Augen, ein breiter, gerader Mund, ein energisches Kinn. Sie wäre schön gewesen, wenn sie nicht eine so dicke und flache Nase gehabt hätte. Die Nachwirkungen ihrer häufigen Gefängnisaufenthalte und der Hungerstreiks zeigten sich in ihrem abgezehrten Gesicht, an den fleischlosen Händen und an der gelblichen Hautfarbe. Sie wirkte schwach, abgemagert und leidend.
Sie hob die Hände, und sofort verstummten der Applaus und die Schreie.
Sie begann zu sprechen. Ihre Stimme war kräftig und klar, obgleich sie sie nicht anstrengte. Charlotte stellte überrascht fest, daß sie einen Lancashire-Akzent hatte.
Sie sagte: »Im Jahre 1894 wurde ich zum Mitglied des Aufsichtskomitees des Arbeitshauses in Manchester gewählt. Als ich zum erstenmal diesen Ort betrat, war ich entsetzt, sieben-bis achtjährige kleine Mädchen auf den Knien die kalten Fliesen der langen Korridore schrubben zu sehen. Diese kleinen Mädchen waren Sommer und Winter in dünne Baumwollschürzen gekleidet, mit offenem Nacken und kurzen Ärmeln. Des Nachts trugen sie überhaupt nichts, denn Nachthemden waren für die Armen zu teuer. Das epidemische Auftreten von Bronchitis hatte die Überwachungsbehörde nicht auf den Gedanken gebracht, für bessere Kleidung zu sorgen. Das war allerdings nicht besonders erstaunlich, denn bis zu meiner Ankunft bestand sie fast ausschließlich aus Männern.
Ich fand auch schwangere Frauen in diesem Arbeitshaus, die die härtesten Arbeiten ausführen mußten, fast bis unmittelbar vor der Niederkunft. Viele von ihnen waren unverheiratet, sehr jung und eigentlich noch Kinder. Diese armen Mütter durften nach der Entbindung höchstens zwei Wochen im Krankenhaus bleiben. Danach hatten sie nur noch die Wahl, im Arbeitshaus zu bleiben und sich ihren Lebensunterhalt als Scheuerfrauen zu verdienen – in diesem Fall trennte man sie von ihren Babys – oder entlassen zu werden. Sie konnten bleiben und arm sein oder gehen – mit einem zwei Wochen alten Baby in den Armen, ohne Hoffnung, ohne Heim, ohne Geld, ohne jemanden, der ihnen half. Was wurde aus diesen Mädchen, und was wurde aus ihren unglücklichen Kindern?«
Charlotte war ungemein überrascht, daß man über so heikle Dinge in aller Öffentlichkeit diskutierte. Uneheliche Kinder . unverheiratete jugendliche Mütter . ohne Heim, ohne Geld . und warum sollte man sie im Arbeitshaus von ihren Babys trennen? Konnte das wahr sein?
Aber es kam noch schlimmer.
Die Stimme Mrs. Pankhursts wurde um einiges lauter.
»Das Gesetz bestimmt, daß ein Mann, der ein Mädchen ruiniert, eine Pauschalsumme von zwanzig Pfund bezahlt, und damit ist das Pflegeheim vor Inspektionen gesichert. Solange ein Fürsorgevater nur ein Kind bei sich aufnimmt und die zwanzig Pfund bezahlt sind, können die
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