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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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Sein König war ein armer, betagter Mann, der mit hängenden Schultern in seiner Ecke stand, umgeben von ein paar letzten Getreuen, armen Würstchen, die sich wie Zielscheiben vor ihren Herrn stellten und auf ein Wunder hofften. Was prompt geschah. Als Bötsch mich sah, winkte er mir zu, als wäre ich sein alter Kumpel, markierte den Gelassenen und besaß die Frechheit, der jungen Dame wie ein Gottesgeschenk ein Remis anzubieten.
    »Res nullius«, sagte sie und erklärte damit das Spiel zur herrenlosen Sache. Ich konnte nicht glauben, dass sie damit meinte, der Sieg gehöre niemandem, dass also das Remis in Ordnung gehe. Wahrscheinlich stand »Res nullius« für den Umstand, dass es im modernen Leben wie im Schachspiel an richtigen Herren fehle, Herren, die noch in der Lage waren, mit Anstand zu verlieren. Und nicht so unverschämt waren, am Boden liegend ein Unentschieden vorzuschlagen.
    Die Frau erhob sich, warf einen abgeklärten Blick auf das Brett und ging halskratzend mit Fisch aus dem Raum.
    »Also, meine Herren, setzen Sie sich bitte«, sagte Bötsch und zeigte mit der Geste eines Hausherrn auf zwei freie Stühle. Ich hatte den Eindruck, dass sein rechtes Auge bedeutend stärker nach außen abwich als zwei Tage zuvor. Sein Silberblick wirkte angegriffen. Die Rechnung in seinem Gesicht ging nicht mehr wirklich auf. Mir war, als säße ich einem Hochstapler, dem falschen Bötsch gegenüber. Was freilich Unsinn war. Der Mann war müde, zumindest im Gesicht. Das war alles.
    »Wie haben Sie uns gefunden?«, fragte ich ihn.
    »Hab ich doch gar nicht. Der Herr Fisch war so freundlich. War mal ein Student von mir. Äußerst begabt. Originell im Denken. Nur dass er das Studium abgebrochen hat. Was ich begrüße. Politisch unzuverlässige Leute, so genial sie sein mögen, gehören auf die Straße. Wie überhaupt das Genie auf die Straße gehört. Universitäten dienen der Selektion. Das ist ihre heilige Aufgabe. Die Wissenschaft braucht keine Denker, sondern Arbeiter. Denken verunreinigt die Luft. Das kann sich nur die Kunst leisten, die ja nichts leisten muss.«
    Bötsch unterbrach sich, rieb sich die Schläfe, als überlege er, wo er sich eigentlich befand. Sein rechtes Auge wirkte nun geradezu selbstständig. Plötzlich richtete er sich auf, als sei er aus einem Traum aufgeschreckt, und fragte mich: »Warum haben Sie das getan?«
    »Was getan?«
    »Mich gerettet.«
    »Ich stand gerade in Ihrer Nähe.«
    »Das ist doch kein Grund. Oder wollen Sie mir weismachen, Sie seien ein guter Mensch?«
    »Das ist nicht mein Problem. Mein Problem ist, dass ich Sie seit geraumer Zeit beobachte. Sie interessieren mich. Das mag sich nicht gehören, aber schließlich bin ich Ihnen nicht nachgeschlichen. Sie sind mir immer wieder über den Weg gelaufen. Und deshalb weiß ich, was Sie tun, wie Sie es tun. Sie verstehen mich doch. Die Bücher, die Taschen, all die Dinge, die Sie ablegen und zufügen.«
    »Was kümmert Sie das?«
    »Viel. Ich hänge der gleichen Leidenschaft an. Seit jeher.«
    »Traurig für Sie, junger Mann, woran auch immer Sie hängen mögen. Aber in meinem Fall kann von Leidenschaft keine Rede sein. Ich betreibe Forschung, verstehen Sie? Mich beschäftigt das Phänomen des Brutparasitismus. Ich lege Kuckuckseier, ich hinterlege das Fremde in den Nestern der Wohlstandsgesellschaft. Und kann immer wieder feststellen, wie sehr der moderne Mensch einem materialistischen Brutpflegeinstinkt unterworfen ist. Was die Leute in ihren Taschen finden, in den Laden ihrer Schreibtische, in ihren Kofferräumen, das halten sie für das Eigene. Und was sie in den Regalen der Warenhäuser sehen, halten sie für das Echte. Die Kunden wie die Verkäufer. Nur selten berücksichtigen sie die Möglichkeit, Opfer einer versuchten Brutschmarotzerei zu sein. Selbst wenn es sie verunsichert oder abstößt, fast immer nehmen sie das gefundene Ei an. Und – wenn ich das so sagen darf – sie brüten es aus. Ich will Ihnen ein harmloses Beispiel nennen: Die Gemahlin eines Kollegen, in deren Wohnung ich einen neunzehn Zentimeter großen Bonsai geschmuggelt habe. Die gute Frau, ein reinlicher Mensch im pathologischen Sinn, hat nie auch nur einen Blumenstrauß in ihrer Wohnung geduldet. Heute ist sie Präsidentin der Deutschen Bonsai-Gesellschaft. Und glücklich. Letzteres allerdings hat mich nicht zu interessieren. Wie gesagt, das ist ein harmloses Beispiel. Und man kann sich infolgedessen ausmalen, welche manipulative Möglichkeiten der

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