Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
viele Worte zu verlieren.«
    »Moment. Wie denken Sie sich das: ausscheiden?«
    »Das kann ich nicht sagen. Ich wollte Ihnen nur eine Chance geben.«
    »Was für eine Chance? Schon wieder den Helden zu spielen? Meine Güte, Herr Professor, das ist nun wirklich meine traurigste Rolle. Und wer ist überhaupt diese Holdenried? Warum soll sie sterben?«
    »Ich sage Ihnen nur, dass diese Frau den Tod nicht verdient.«
    »Wer verdient ihn denn?«
    Bötsch schwieg. Heinz schwieg schon lange. Ich sagte auch nichts mehr, stand auf, folgte dem Blick des Boxers auf das Schachbrett. Auch der Professor sah jetzt wieder hinunter auf die hoffnungslose Situation seiner weißen Figuren, welche angesichts des Remis noch tragischer wirkten als zuvor, wie Leute, denen man nicht einmal den Tod gönnt.
    Ich überlegte. Sollte ich wirklich versuchen, einen Berufsmörder an seiner Arbeit zu hindern, so wie man einem Schlachter seine Knochensäge aus der Hand nimmt und ihn nach Hause schickt? Wofür? Um eine Frau zu retten, die ich nicht kannte und die zu retten der Herr Professor entweder zu feige oder zu faul war? Um mir eine weitere Kugel einzufangen und eine weitere Operation zu überstehen oder auch nicht? – Gut, der Boxer hatte das Motto vorgegeben: die Sache erledigen. Also genau das, was einem im Leben sonst nicht gelingt, weil man sich nun einmal vor Kugeln fürchtet oder auch nur vor einer schlechten Benotung, vor ein paar scharfen Worten, den Folgen von zu viel Knoblauch oder vor einer Diarrhö. Man zittert durchs Leben, auch wenn man um Haltung bemüht ist (weshalb das Herrensakko erfunden wurde, dieser Panzer des Jämmerlichen), man spricht von erledigten Arbeiten, aber in Wirklichkeit ist bloß das erledigt, was innerhalb unseres Zitterrahmens Platz findet. Außerhalb dieses Rahmens stehen die nicht einmal vergebenen Möglichkeiten, da stehen die Worte, die, längst geformt, Besoffenheit vorspielen, um nicht aus dem Mund herausfinden zu müssen, da warten jede Menge Wut und ein paar Kilo Knoblauchzehen. Gerade in Deutschland werden im Jahr Abermillionen von Knoblauchzehen nicht gegessen, die eigentlich gegessen gehören, da ja der entsprechende millionenfache Appetit durchaus besteht. Doch man fürchtet sich vor dem eigenen Atem. Der eigene Atem ist der Abgrund, dem wir auszuweichen versuchen.
    »Ich wüsste einen Ausweg.«
    Unvermutet hatte Heinz Neuper gesprochen. Ich schaute ihn von der Seite an. Er saß jetzt nach vorn gebeugt und hatte die Hände zum Kopf gezogen, als wollte er in der üblichen Boxermanier die empfindlichen Stellen seines Gesichts decken. Er unterließ es aber, Fäuste zu bilden, sondern presste die Daumen gegen das jeweilige Jochbein, während die anderen Finger zwei Wände bildeten, die wie Klappen das Gesicht erweiterten. Sein Blick war auf das Schachbrett gerichtet. Er hatte sich verändert. Vom Boxer zum Schachspieler. Er hob die Brauen, als wäre ihm eine Idee gekommen.
    Ich kenne die Gesichter und die Biografien berühmter Spieler, ich kenne den Tratsch, der diese Leute umgibt, den sie selbst so gern fördern. Und man muss sich fragen, warum noch niemand auf die Idee gekommen ist, in der Art von Ärzteromanen auch Schachromane zu verfassen. Das Leben der Schachgrößen – die alle etwas Landadeliges besitzen, etwas Borniert-Geniales, eine gewisse schlanke Fettleibigkeit, eine trockene Verschwitztheit – würde sich bestens eignen, den Leser in eine Welt zu entführen, in der die vom vielen Denken und Nachdenken und Überdenken gequälten Männer jede Banalität in etwas Tragödienhaftes verwandeln. Eine Welt, in der jedes Rätsel schlussendlich auf einem Holzbrett gelöst wird, das aussieht wie die Zielflagge eines Autorennens.
    Vom Schach selbst verstehe ich allerdings überhaupt nichts. Deshalb war es mir unmöglich, den Ausführungen Neupers zu folgen, der sich nun in eine Hitze hineinredete, derart war er um die Rettung des weißen Königs bemüht, als könne er dadurch Natalja retten, die ja nicht mehr zu retten war, so wenig wie der König aus dem vereinbarten Remis. Die Frau mit dem zerkratzten Hals würde nicht zurückkommen, um dieses Spiel wieder aufzunehmen.
    Neuper aber ließ es sich nicht nehmen, das Schicksal mit allen Regeln der Kunst umzudrehen und zu erklären, wie die wenigen weißen Figuren dieses Spiel noch hätten gewinnen können. Der Professor, zuerst bloß belustigt, hörte nun aufmerksam zu und musste erkennen, dass der Glanz seines ergaunerten Remis verblasste.
    Ich

Weitere Kostenlose Bücher