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Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
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ließ die beiden allein und ging hinüber zum Tresen, stellte mich an eines der Enden, wo man mir ungefragt ein Glas Bier zuschob, welches ruhig etwas kühler hätte sein dürfen. Trotz der erhöhten Temperatur im Raum, im Bier und im Körper leerte ich ein Glas nach dem anderen. Mit zunehmender Betrunkenheit hatte ich immer weniger das Gefühl, an einem Schanktisch zu stehen, viel eher an einer Baustelle, an eine Absperrung gelehnt. Mit frührentnerischer Gelassenheit verfolgte ich das Geschehen: Werktätigkeit, nackte Arme, Unterleibchen, Lärm, das Durcheinander, das der Ordnung voransteht. Ich kam so schnell nicht los. Der Tag verging. Sehr spät löste ich mich aus meiner Betrachtung und fiel wie ein Toter zwischen fremde Körper.
    Keine Ahnung, was in diesem Bier gewesen war, aber ich meinte nicht bloß durch den Boden hindurchzufallen, was ja einem herkömmlichen schwer alkoholisierten Zustand allemal entsprochen hätte, sondern ich stürzte aus diesem Boden wie aus einer Wolke heraus und raste auf die Erde zu. Und zwar nicht im Bewusstsein einer Wahnvorstellung, sondern zutiefst erschrocken darüber, keinen Fallschirm zu besitzen. Das klatschnasse Hemd klebte wie eine Eisplatte auf meiner Brust. Mein Herrensakko flatterte. Auch wenn ich Arme und Beine wie ein Flughund ausbreitete, konnte von einem kontrollierten Flug keine Rede sein. Wozu auch Kontrolle? War der Boden zunächst so weit entfernt gewesen, dass ich bloß einen dunstigen Schleier gesehen hatte, klarte es nun auf, und eine Stadt erschien, die von hier oben etwas Flachgedrücktes, Einheitliches besaß, sich aber aufzulockern begann. Ich registrierte sehr wohl das Abstruse dieser Situation, dass ich ausgerechnet von Stammheim aus auf die Erde stürzte. Stammheim lag also über den Wolken, quasi im Himmel. Und die Stadt, auf die ich jetzt hinuntersauste, war natürlich Wien. Ein sehr gängiges Bild, jenes vom verlorenen Wiener Sohn, der nicht einfach per Bahn oder Auto zurückkehrt, sondern direkt aus dem Himmel in die Stadt fällt. Die Frage ist nur, wohin man fällt. Direkt in ein Grab, in ein Ehrengrab hinein? Mit solcher Wucht in ein Ehrengrab hinein, dass keiner mehr sagen kann, man würde ein solches gar nicht verdienen. Mit solcher Wucht, dass niemand es schafft, einen aus diesem Ehrengrab wieder herauszukratzen. Das mag nach Klischee klingen, aber der geborene Wiener, also der im naturtrüben Klischee geborene Mensch, wünscht sich nichts so sehr wie ein Ehrengrab, auch wenn er niemals in den Geruch der Berühmtheit oder gehobener Ehrenhaftigkeit gerät. Selbst der Wiener Mörder hofft weniger auf Vergebung, sondern vielmehr darauf, dass die Vergeber von Ehrengräbern mit der Zeit an seiner kriminellen Tat das Verdienstvolle erkennen, etwas Wegweisendes (politische Weitsicht, Entwicklung eines neuen Tötungsverfahrens oder Ähnliches). Manche treiben es in ihrer Verzweiflung besonders weit. Während sie noch im Gefängnis einsitzen, beginnen sie eine schriftstellerische Karriere, von der sie hoffen, sie würde ihnen den Weg ins Ehrengrab ebnen. Denn wie auch die anderen Wiener Künstler nehmen sie nicht deshalb jede Schamlosigkeit in Kauf, um an einen bedeutenden Kunstpreis heranzukommen, sondern diese Kunstpreise dienen ihnen bloß als Sprungbrett ins Wiener Ehrengrab.
    In der Donau wollte ich nicht landen. Lieber im Donaukanal, nicht weil er sauberer ist, das nicht. Aber die Donau ist nicht Heimat, der Kanal schon. Er ist es, welcher besungen gehört. Die Donau hat etwas Arrogantes, etwas Ländlich-Arrogantes und Antistädtisches. Wenn man sie sieht, muss man sofort an die Wachau denken und damit an das Liebliche. Der Kanal hingegen fällt nicht einmal auf, wenn man rechter oder linker Hand an ihm entlangfährt. Er ist wie eine gesperrte, mittlere Autospur, an der seit Ewigkeiten gebaut wird.
    Aber ich fiel weder in den Kanal noch in ein Ehrengrab, sosehr ich mir das auch wünschte. Ich wurde auch nicht – sosehr ich es erwartete – von einer der zahlreichen Kirchturmspitzen aufgespießt, landete nicht auf dem Secessionsgebäude, das ich von Weitem erkannte und das von hier oben wie ein sehr edles Emailwaschbecken in einem total verdreckten Badezimmer aussah. Nein, ich raste auf einen von jeder religiösen oder weltlichen Sehenswürdigkeit unbedarften Häuserblock zu. Ich würde mitten im grauen fünften Gemeindebezirk landen, in Margareten. Eine Gegend, die mir bestens vertraut war. Ich raste jetzt mit dem Kopf voran abwärts und schrie

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