Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte
Ich öffnete die Augen, gleichzeitig knipste ich das Licht an. Herr Bötsch lag flach auf dem Boden und starrte mich an. Gut, ich war nackt. Und ich stand in seinem Schlafzimmer. Er riss den Blick von mir weg und sah hinauf zu seiner Frau, die noch immer aufrecht im Bett saß, auch sie nackt und wunderschön, wie ich noch einmal betonen muss. Sie hielt ein Gewehr in der Hand, aus dem sie soeben einen treffsicheren Schuss abgegeben hatte. Wenn man schon an den Sinn von Gewehren glaubte, war es durchaus vernünftig, sie nicht bloß in dekorativen Wandschränken aufzubewahren, sondern auch unter dem Bett.
Ich ging hinaus in den Flur und sah nach dem Mann, der am Treppenansatz lag. Er brauchte niemanden mehr, der nach ihm schaute. Ich kehrte ins Schlafzimmer zurück, zog den Gürtel eines Bademantels aus den Schlaufen und fesselte die beiden Hände des anderen BMWlers, der noch immer bewusstlos war. Und presste ihm eine Krawatte in den Mund. Dann machte ich mich endlich daran, mir die Unterhose anzuziehen.
»Was tun Sie hier?«, fragte Bötsch mit großen Augen.
»Haben Sie keine anderen Sorgen?«, fragte ich zurück und streifte meine Strümpfe über.
»Komm, Berthold«, sagte die praktische Olga, die bereits Kleidungsstücke in einen Koffer stopfte, »mach dich fertig. Geld, Pässe, warme Sachen.«
Zwanzig Minuten später saßen die beiden in ihrem Wagen und fuhren Richtung Schweiz. So sind die Deutschen, heißt es. Auf Urlaub nach Österreich. Aber wenn sie Schwierigkeiten haben, geht es ab in die Schweiz. Von dort würde das Ehepaar Bötsch wohl einen Flieger nach Connecticut nehmen. Wir sprachen kein Wort mehr miteinander.
Man würde sie nicht verfolgen. Zumindest nicht offiziell. Ich war überzeugt, dass Geislhöringers Leute bald auftauchen und ihren toten Kollegen aus dem Haus schaffen würden. Man hatte Bötsch liquidieren wollen. Aber man hatte kein Interesse, ihn zur öffentlichen Figur zu machen in dem Sinne, dass ein Toter in seiner Wohnung lag und er mit seiner Frau geflüchtet war. Vielleicht würde man den Bötschs zu aller Sicherheit jemanden nachschicken, einen Mann wie mich. Vielleicht würde man sie in Ruhe lassen.
Ich betete für Olga. Es war ein gutes Gebet. Und ich konnte nur hoffen, dass nicht irgendein schlechtes Gebet dazwischenfuhr und die Wirkung aufhob.
Zehn nach zwölf läutete das Telefon. Der Portier ließ mich wissen, dass ein Herr Borowski in der Halle auf mich warte.
»Richten Sie ihm aus, dass es mir nicht gut geht.«
Das war natürlich ein Fehler. Fünf Minuten später stand Borowski in meinem Zimmer, um zu konstatieren, dass ich tatsächlich schlecht aussähe, und mich dann mit einer Flut hausmedizinischer Ratschläge zu traktieren. Ich wehrte mich, indem ich mich anzog und, wie versprochen, mit ihm zum Mittagessen ging.
Das Lokal, das der Katholik Borowski auswählte, nannte sich Gewerkschaftskeller und besaß eine nüchterne, jedoch nicht kalte Rustikalität. Wirkte mehr ländlich als städtisch, trotz der Glasfenster im Stil des sozialistischen Realismus, durch die künstliches Licht drang. Tageslicht gab es hier nicht. Was in keiner Weise störte. Überhaupt vergaß man, wenn man dort unten saß, dass man sich mitten in Stuttgart befand. Aber das war es nicht, warum der Vielesser Borowski den Gewerkschaftskeller hoch schätzte. Was ihn anzog, war das erstaunliche Zusammentreffen ziviler Preise mit großen Portionen, anders gesagt: Hier wurden die Teller allen Ernstes bis zur Gänze gefüllt.
»Und das nicht mit Dreck«, so Borowski wörtlich, der wie üblich einen gesegneten Appetit an den Tag legte. Das schien mir seine Stärke, seine Gottesgabe: dass er dabei nicht fett wurde. Schlank und zufrieden saß er vor einer zweiten Portion »gewerkschaftlicher« Maultaschen, während ich in meiner Fleischbrühe herumrührte. Warum sollte das Leben auch gerecht sein?
»Können Sie sich an Bötsch erinnern?«, fragte Borowski.
So etwas wie ein Stromstoß jagte durch mich hindurch. Aber ich versuchte, gelassen zu bleiben, zerteilte eine Karotte. »Der Professor mit den Würmern?«
»Genau. Dem man einen Orden anhängen wollte. Daraus wird nichts.«
»Tot«, sagte ich. Wie eine Feststellung.
»Wie kommen Sie darauf?«
»Nun, ich dachte…«
»Nein, er soll übergeschnappt sein. Was mich nicht wundert. Wir wollen doch ehrlich sein. Die Zoologie ist etwas für Menschen, die überspannt und mit Gott nicht im Reinen sind. Jemand sucht die Wahrheit, indem er die Lebensweise
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