Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte

Titel: Der Mann, der den Flug der Kugel kreuzte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heinrich Steinfest
Vom Netzwerk:
erwischen diesen Mann einfach nicht. Schwer zu sagen, ob die vernünftigen oder die unvernünftigen Äußerungen von ihm stammen. Na gut, so was kann sich vielleicht ein Kanzler leisten. Ich nicht. Obendrein habe ich wenig Vergnügen daran, eine fremde Garderobe zu bezahlen. Und ich bestehe ganz gern auf meiner Einmaligkeit. Eine Doppelgängerin, auf die die Leute hereinfallen, ist eine Beleidigung für mich.«
    »Und deshalb sollte diese Frau sterben?« Aber das war ja auch die falsche Frage, wie ich jetzt erfuhr. Die Geschichte war nämlich folgende: Holdenried engagierte einen Detektiv, keinen von diesen glatten, dauergewellten Bürschchen, wie sie in Agenturen herumrennen und die ihre Zeit mampfend und computerspielend in Observationsbussen absitzen, sondern einen Exknacki, einen ehemaligen Stammheimler, der keine drei Tage benötigte, dann konnte er seiner Auftraggeberin eine gewisse Ruth Dreher servieren. Er servierte sie tatsächlich frei Haus. Frau Holdenried hatte gerade Gesellschaft. Der Stammheimler hatte nichts dagegen, zur Hintertür hereinzukommen und Frau Dreher im Weinkeller abzustellen. Dann konnte er gehen. Und durfte, bestens entlohnt, die Sache gleich wieder vergessen.
    Frau Dreher war zur Genüge eingeschüchtert. Der Detektiv hatte ihr mehrmals den Arm verdreht und ihr versichert, dass jedes Kind in der Lage wäre, einen Fingerknochen zu brechen, leichter als einen dünnen Zweig oder ein Stück Schokolade. Den meisten allerdings, Kindern wie Erwachsenen, fehle die Courage. Ihm aber fehle die Courage nicht (wie die meisten harten Männer liebte er die Kunst der Wortblume).
    Ruth Dreher war sofort klar geworden, dass auch Frau Holdenried die Courage besaß, unliebsamen Personen was auch immer umzudrehen beziehungsweise umdrehen zu lassen. Überraschenderweise wollte Holdenried jedoch weder die von ihr finanzierten Pelze und Schmuckstücke zurückhaben, noch forderte sie eine Selbstanzeige der Betrügerin, sondern bestand darauf, dass Ruth Dreher ihre Rolle, die Holdenried’sche Rolle, noch einmal spielte, diesmal unter genauen Regievorgaben. Der Ort wurde festgelegt: die Landesbank gegenüber dem Hauptbahnhof. Die Zeit: sehr, sehr spät. Der Text: brisant. Selbigen sollte sie auswendig lernen und in besagter Nacht dem Politiker Paul Hübner vortragen.
    Ruth verstand nicht, wozu das alles gut sein sollte. Aber sie akzeptierte, umso mehr, als sie ihre ergaunerten Wertsachen behalten durfte und nach Erfüllung ihrer Aufgabe nach Südamerika reisen sollte. Die Vorstellung, von Stuttgart wegzumüssen, trieb sie nicht gerade zur Verzweiflung. Sie stammte aus Hamburg. Wie nicht wenige Hamburger empfand sie Stuttgart als den größten Vorort Deutschlands.
    Es scheint, als hätte sie ihre Rolle ganz gut gespielt. Zumindest wies nichts darauf hin, dass Hübner ein Verdacht gekommen war. Hätte jedoch Ruth ihre Rolle nicht bloß gut, sondern wirklich perfekt gespielt, wäre sie heute nicht mehr am Leben. Aber sie hatte Glück. Zwei Ohrclips fehlten. Was auch ein wenig Holdenrieds eigener Fehler gewesen war, da sie ihrer Doppelgängerin das Tragen des Ohrschmucks zwar vorgeschrieben, aber die Notwendigkeit dieser Handlung nicht erklärt hatte. Und Ruth Dreher war der eklatante Unterschied zwischen ihren und Holdenrieds Ohrläppchen nicht aufgefallen. Und wenn, hätte sie dies wohl kaum als bedeutend angesehen.
    »Und wozu das alles?«, fragte ich.
    Geislhöringer griff wieder ein. »Das braucht Sie nicht zu interessieren. Es reicht jetzt.«
    »Genau«, sagte ich.
    »Genau? Was soll das jetzt wieder heißen?«, fragte der Bayer.
    »Worin bestand denn Ihre Aufgabe? Ich meine, Ihre eigentliche Aufgabe?« Ich zeigte mit dem Finger auf Geislhöringer. Mag sein, dass dies in Deutschland als ungehörige Geste gilt. Dennoch fand ich es übertrieben, dass Geislhöringer nun eine Waffe zog und mit dieser seinerseits auf mich deutete, sodass mein Finger und sein Pistolenlauf sich beinahe berührten. Was mir derart drollig erschien, dass ich die Bedrohung überhaupt nicht wahrnahm und dem Bayern die Waffe einfach aus der Hand schlug, ohne große Umstände, beinahe scherzhaft, als hätte ich ihn beim Apfelklauen ertappt. Das Waffe-aus-der-Hand-Schlagen schien sich langsam zu meiner Spezialität zu entwickeln. Kein gutes Zeichen für einen Mann, der stets auf ein distanziertes Verhältnis zu Handgreiflichkeiten stolz gewesen war.
    Die Waffe rutschte über den Boden auf Szirba zu, der wie ein stummer Diener neben dem Kamin

Weitere Kostenlose Bücher