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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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hinauf in den Glockenturm führte. Dahinter schraubte sich eine schmale Wendeltreppe aufwärts in die Dunkelheit. Sie machte sich an den Aufstieg und ihre durchnässten Sneakers quietschten auf den Stufen, Runde um Runde, bis das schwache Licht von unten sie nicht mehr erreichte und es stockfinster wurde. Der Sturm, der um die Mauern heulte, lockte sie weiter und weiter, bis ihr schwindelig wurde und sie das Gefühl hatte, einen Tornado zu erklimmen.
    Gerade als Elsa glaubte, ihre Beine wollten sie keinen Schritt mehr weiter tragen, wurde ihr bewusst, dass sie die Stufen vor sich erkennen konnte. Licht drang durch die Dunkelheit. Sie sah den feuchten Schimmer der Steinwände und dann – so unwirklich nach den zahllosen Treppenstufen, dass sie sich mit dem ganzen Körper dagegenpressen musste, um sicher zu sein, dass sie echt war – eine Tür.
    Kaum hatte sie den Riegel gehoben, riss der Wind die Tür für sie auf. Elsa stolperte auf den Balkon hinaus und wurde beinahe von den Füßen geschleudert. Der Wind umtoste sie brüllend und Finns Gewitter antwortete mit einem Donnerschlag. Der Himmel war so schwarz und unberechenbar wie ein See aus kochendem Teer.
    Halt suchend an die Wand gepresst, bewegte sie sich Stück für Stück über die schmale Balustrade. Neben ihr in der Turmspitze gab die riesige Glocke von Thunderstown ein tiefes Dröhnen von sich. Elsa blickte nach unten und sah eine Miniaturlandschaft aus Straßen und Häusern; Wetterfahnen zuckten und drehten sich um sich selbst wie Kreisel und auf dem Kirchplatz sammelte sich schäumend das Wasser. Dann blickte sie nach oben und sah nichts als brodelnde Schwärze.
    »Finn«, flüsterte sie. Die Stimme zu erheben wäre sinnlos gewesen, selbst wenn sie dafür nach dem hastigen Aufstieg noch die Kraft gehabt hätte. »Finn, kannst du mich hören?« Sie tastete sich weiter an der Wand entlang, bis sie fand, weswegen sie heraufgekommen war: den Blitzableiter. Sie umklammerte ihn so fest, wie ihre steifgefrorenen Hände es zuließen.
    »Ein Blitz schlägt nicht ein«, hatte ihr Dad ihr erneut eingebläut, an dem Tag, als sie ihn das letzte Mal lebend gesehen hatte. Sie hatte auf ihre Finger in ihrem Schoß gestarrt und sich nur noch leer gefühlt, da sie schon wieder in das einzige Gesprächsthema abgerutscht waren, auf das sich ihre Beziehung reduziert hatte. »Die Erde und das Gewitter schaffen eine Verbindung zueinander, Elsa, und der Blitz setzt die Verbindung in Brand.«
    Sie spürte, wie die gesammelte Elektrizität der Erde das Kirchenschiff unter ihr füllte wie das Wasser die Straßen. Sie strömte aus uraltem Gestein und unterirdischen Kammern empor, aus dem Kern der Erde selbst, durch Fundamente und Gewölbe, kroch Steinmauern und Säulen hinauf, sprang über Stützpfeiler und Bögen und untermalte mit ihrem leisen Pfeifen das Summen der Glocke. Sie durchdrang jede Zelle von Elsas Körper. Unmengen von Elektrizität aus der Erde flossen in sie hinein – ein Berg von Energie, dessen Gipfel sie selbst war. Ihr Mund klappte auf. Sie schmeckte Blei.
    »Finn«, stieß Elsa schließlich krächzend hervor. Sie konnte sich nicht rühren. Sie spürte, wie die Energie aus ihrem Kopf austrat, ihre Haare anhob, sich dem Gewitter entgegenreckte. Sie schloss die Augen und stellte sich vor, Finns Gesicht wäre nur Zentimeter von ihrem entfernt.
    Eine Säule von Weiß. Die Welt erstarrte. Regentropfen hingen in der Luft wie perfekt geformte Perlen. Und alles wurde weißer und weißer, bis es so grell und gleißend war, dass sie das Gefühl hatte, Sterne anstelle von Augen zu haben. Von irgendwoher ertönte ein Schrei. Vielleicht war es ihr eigener.
    Der Blitz schlug nicht ein. Er setzte die Verbindung zwischen ihnen in Brand.

Elsa kam zu sich. Erst glaubte sie, ihre Augen wären offen, denn sie sah Hunderte von funkelnden Lichtern. Nach einem Moment wurde ihr bewusst, dass sie nicht blinzelte. Die Lichter waren in ihrem Kopf und ihre Lider geschlossen. Jemand sagte etwas. Ihr Körper war wie eine Flasche, die in einem Ozean trieb. Sie driftete zurück in die Bewusstlosigkeit.
    * * *
    Wieder kam sie zu sich, diesmal langsamer. Sie lag auf einer harten, aber bequemen Matratze. Sie sah keine Lichter, nur die gesprenkelte Dunkelheit unter ihren geschlossenen Lidern. Unter großer Anstrengung öffnete sie die Augen. Doch das fühlte sich an, als blickte sie direkt in die Sonne, und so schloss sie sie wieder.
    Jemand sprach, aber die Worte waren nur ein dumpfes Gewirr in

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