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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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ihren Ohren. Sie versuchte abermals, die Augen zu öffnen, und dieses Mal erschien ihr die gleißend helle Welt ringsum ein winziges bisschen erträglicher. Sie konnte Flächen erkennen, obwohl sie alle zu strahlen schienen.
    Eine Silhouette beugte sich über sie. »Versuch, mich anzusehen, Elsa.«
    Ganz langsam nahm die Silhouette Farbe an, Hunderte verschiedene Nuancen tanzten schillernd vor ihr auf und ab. Ihre Augen verdrehten sich unkontrolliert in ihren Höhlen.
    »Ganz ruhig, Elsa.«
    Sie holte tief Luft. Die Farben in ihrem Sichtfeld wirbelten umher, als blickte sie in ein Kaleidoskop. Am liebsten hätte sie geschrien, doch sie würgte den Drang hinunter. Irgendwann ordneten sich die Farben zu Reihen von Rauten an, jede in einer anderen Schattierung und jede von Übelkeit erregender Intensität. Zusammen formten sie ein Muster.
    Einer von Kenneth Oliviers Pullovern.
    Sie hielt sich die Augen zu.
    »Elsa!«, rief Kenneth voller Erleichterung. »Gott sei Dank! Wie fühlst du dich?«
    Sie nickte und sah dann weg, egal wohin, nur nicht auf seine Kleidung. Dieser seltsam kahle Raum, in dem sie lag, hatte graue Steinmauern, einen grauen Steinboden und eine graue Steindecke, obwohl ihre noch nicht ganz wiederhergestellte Sehkraft alles in ein gelbgrünliches Licht tauchte, als würde der Raum von einer Gaslaterne erhellt.
    »Wo bin ich?« Die Worte schmeckten bitter.
    »Trink einen Schluck Wasser.«
    Sie nippte an dem Glas, das er ihr hinhielt, doch sie konnte ihn noch immer nicht ansehen. Das Wasser fühlte sich an wie geschmolzenes Metall in ihrer Kehle.
    »Du bist im Kloster von Sankt Catherine. Hierher werden alle Leute gebracht, die vom Blitz getroffen wurden.«
    Natürlich, jetzt erinnerte sie sich. Sie war auf dem Glockenturm gewesen; wieder spürte sie den Wind, der an ihren Kleidern zerrte, und das Prasseln des Regens in ihren Ohren. Sie hatte zu der pechschwarzen Unterseite der Gewitterwolke hinaufgestarrt und Finns Namen geflüstert.
    Der Blitzschlag hatte weniger als eine Sekunde angedauert, aber sie hatte ihn wie in Zeitlupe erlebt. Es hatte damit angefangen, dass sich die Luft zusammengezogen und rücksichtslos auf ihre Pulsadern in Hals und Handgelenken gedrückt hatte. Dann hatten sich ihre Haare aufgestellt, langsam und schwebend, als befände sie sich unter Wasser. Sie hatte kerzengerade dagestanden, die Wirbelsäule wie ein straff gespanntes Seil, und die Verbindung gespürt, die ihr Dad ihr so oft beschrieben hatte. Eine Linie aus elektrisch aufgeladener Luft, die sie an Finns Sturm gekoppelt hatte. Sie hatte nach oben gestarrt und auf den Blitzschlag gewartet, doch er war nicht aus der Wolke entsprungen. Sondern aus ihr. Plötzlich war die Welt von mehr Licht erfüllt gewesen, als Elsas Augen ertragen konnten. Kurz darauf hatte sich weißes Feuer auf sie herabgesenkt, zeitgleich mit ihrem Flüstern: »Finn.«
    Einen Moment lang hatte sie sich so stark mit ihm verbunden gefühlt, als wäre ihr Bewusstsein mit seinem verschmolzen. Ihre Gedanken waren voll mit seinen Erinnerungen gewesen, mit Dingen, die Finn fühlte und die der Blitz bis auf den Grund ihrer Vorstellungskraft trug, sodass sie ihr so klar und deutlich erschienen wie Szenen aus ihrem eigenen Leben. Betty, die das Licht ausschaltete, nachdem sie ihm einen Gutenachtkuss gegeben hatte; Sonnenlicht, das sich auf seiner Handfläche in einen Kanarienvogel verwandelte; eine Maus, die über die Schwelle seiner Kate huschte; eine zerbrochene Vase; ein Wintertag, mit Eiszapfen so lang wie Schwertklingen; Daniel, der ihm beibrachte, Papiertiere zu falten; Betty, die Kuchen und Sandwiches für ein Picknick anrichtete; wie Finn ein Lagerfeuer entzündete, indem er zwei Stöcke aneinanderrieb, und die tiefe Zufriedenheit, als der erste Funke sprang; die Druckwelle des Blitzes, der Betty von ihm fortgeschleudert hatte; der Selbsthass, der darauf folgte; und, schließlich, sie, Elsa, an dem Tag, als sie sich an der verfallenen Windmühle zum ersten Mal begegnet waren.
    Dann, als hätte jemand ein Feuer ausgetreten, war plötzlich alles vorbei gewesen und sie war hintenüber in die Dunkelheit gestürzt.
    Kenneth versuchte sie davon abzuhalten, sich aufzusetzen. Diese Mühe hätte er sich sparen können, denn ein rasender Schmerz in ihrem Brustkorb nagelte Elsa sofort wieder an die Matratze. Stöhnend sank sie zurück in die Kissen.
    »Elsa, bitte lass es langsam angehen. Du brauchst Ruhe.«
    »Kenneth …« Sie versuchte, ihre Lippen zu befeuchten,

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