Der Mann, der den Regen träumt
doch ihre Zunge lag schwer wie ein Stein in ihrem Mund. »Er ist da oben! Ich habe ihn gesehen … in dem Blitz!«
Wieder versuchte sie sich aufzusetzen, aber der Schmerz ließ ihr heiße Tränen über die Wangen rollen. Sie keuchte und zerknüllte das Laken in ihren Fäusten. »Was ist denn los mit mir?«
»Nichts, was ein bisschen Bettruhe nicht beheben könnte, aber als der Blitz dich getroffen hat, haben sich alle deine Muskeln verkrampft. Es wird eine Weile dauern, bis du aufstehen kannst.«
Sie schüttelte den Kopf. »Das geht nicht. Ich muss zurück zu ihm.« Wieder versuchte sie sich aufzurichten und wieder meuterten ihre Muskeln. Steif vor Schmerz ließ sie sich zurückfallen.
»Du kannst jetzt nirgendwohin«, beschwichtigte Kenneth sie. »Du musst dich ausruhen.«
Elsa fing an zu weinen und der Schmerz in ihren überbeanspruchten Muskeln schien den in ihrer Seele zu vervielfachen. Es war ihr gelungen, eine Verbindung zu Finn herzustellen, aber sie wusste nicht, was sie damit erreicht hatte. Und selbst wenn er, wie es ihr während des Blitzschlags erschienen war, irgendwo dort oben wartete, körperlos in dem tosenden Gewitter, wie sollte sie zu ihm gelangen, wenn sie hier an dieses Bett gefesselt war?
Trotz der dicken Steinmauern der Zelle meinte Elsa, in der Ferne gedämpftes Donnergrollen zu hören. »Ist er noch hier, Kenneth?«, schniefte sie. »Bitte, schau doch mal für mich aus dem Fenster.«
Vom Fenster der Zelle aus konnte man ganz Thunderstown überblicken. Kenneth stand widerstrebend auf und sah nach draußen. Nach einem Moment setzte er sich wieder zurück an ihr Bett. »Es ist wirklich seltsam. Hier oben ist die Nacht ganz ruhig, aber unten im Tal tobt noch immer das Unwetter, ja.«
Sie schnappte vor Erleichterung nach Luft. Dann griff sie nach Kenneths Hand und drückte sie ängstlich. »Was meinst du, wie lange er noch durchhalten kann?«
»Elsa, was meinst du damit?«
»Wie lange reicht sein Regen noch?«
»Ich … ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll, Elsa. Ich glaube, du solltest mit deiner Energie haushalten. Es ist schrecklich, einen Menschen zu verlieren. Spar dir deine Kräfte auf.«
Eine Andeutung von Donner drang ins Zimmer. Sie spürte es in den Federn der Matratze unter ihr.
»Sag nicht, dass ich ihn verloren habe. Wie kannst du das behaupten, nachdem du gerade selbst gesehen hast, dass er noch am Himmel ist?«
Kenneth seufzte. »Ich weiß es nicht, Elsa. Ich weiß es einfach nicht.«
Als sie abermals versuchte, sich aufzusetzen, kam sie kaum ein paar Zentimeter hoch. Das Bett erschien ihr wie ein Sarg und sie stieß ein frustriertes Grunzen aus.
»Elsa, Elsa«, versuchte Kenneth sie zu beruhigen. »Ruh dich aus. Es wird noch schwer genug werden. Du musst dich schonen. Vor morgen kannst du nicht aufstehen.«
Als ihr die Ausweglosigkeit ihrer Lage bewusst wurde, verließ Elsa jegliche Hoffnung, mit der sie aufgewacht war. Sie verspürte dieselbe Machtlosigkeit wie kurz zuvor in der Candle Street, vermischt mit sengendem Hass auf Sidney Moses und Abe Cosser und dem Gefühl, von der Liebe – in die sie all ihr Vertrauen gesetzt hatte – betrogen worden zu sein.
Auch ihr Dad hatte sie im Stich gelassen. Seine alte Geschichte über Blitze, die Verbindungen schufen – sie war so sicher gewesen, dass dieses Wissen ihre Rettung sein würde. Aber was nutzte das Ganze, wenn die Verbindung zu Finn nur für den Bruchteil einer Sekunde anhielt? Alles, was sie damit erreicht hatte, war, sich ihre eigene Hilflosigkeit vor Augen zu führen.
»Elsa«, Kenneth wischte ihr mit einem Taschentuch den Mund ab, »dir geht es nicht gut. Vielleicht solltest du noch ein bisschen schlafen.«
»Wie soll ich denn schlafen, wenn er da draußen ist? Und sich vielleicht in Regen aufgelöst hat, wenn ich das nächste Mal aufwache?«
»Denk einfach daran, dass du unter Freunden bist und wir alles tun, um dir zu helfen. Dot wird jeden Moment zurück sein. Und Daniel wahrscheinlich auch.«
»Daniel?«
»Ja. Er ist noch eine Weile geblieben, nachdem er dich hergebracht hat. Er hat an deinem Bett gesessen und sich um dich gekümmert und mit den Nonnen eine Debatte darüber angefangen, was das Beste für dich ist. Aber dann, als du das erste Mal fast zu dir gekommen wärst, ist er in Panik geraten. Er meinte, er sei mit Sicherheit der letzte Mensch, den du würdest sehen wollen, und ist in die Kapelle gegangen. Also ich kann nur sagen, ich bin heilfroh, dass er dich gefunden hat. Wenn er
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