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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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der Ferne ein Tier mit silbern schimmerndem Pelz über eine kleine Geröllhalde schlich. Bevor sie mehr erkennen konnte, verschwand es in einer Spalte und kam nicht wieder hervor. Ein mulmiges Gefühl breitete sich in ihr aus und ließ sie auf ihrem Daumennagel kauen.
    Schließlich, weil sie wusste, dass das die einzige Möglichkeit war, sich sicherer zu fühlen, drehte Elsa sich um und machte sich auf den Weg zurück nach Thunderstown.

Viele Tage waren vergangen, seit Daniel Fossiter Finn Munro zum letzten Mal gesehen hatte, den seltsamen, wettererfüllten jungen Mann, den er insgeheim beschützte. Ein- oder zweimal war Daniel zwar zu der kleinen Hütte oben auf dem Old Colp hinaufgestiegen, doch er hatte das Steinhäuschen stets verlassen vorgefunden. Wahrscheinlich war Finn in den Bergen unterwegs gewesen oder hatte in einem seiner vielen Schlupfwinkel in der Umgebung gehockt, und Daniel war eigentlich ganz erleichtert gewesen, dass ihm eine weitere ihrer unbehaglichen Begegnungen erspart geblieben war.
    Jetzt schlenderte er auf einem schmalen Pfad den staubbedeckten Merrow Wold hinunter, eine tote Ziege über der Schulter. Fünfzehn davon hatte er an diesem Morgen geschossen, bevor der Wind angefangen hatte, die steinige Erde aufzuwirbeln und die Luft mit dichten Staubschwaden zu erfüllen, die ihn stundenlang in ihrem pudrigen Nebel gefangen gehalten hatten. Als die Sicht endlich wieder klar wurde, neigte sich der Nachmittag seinem Ende zu, doch das war Daniel nur recht. So konnte er wenigstens seinen Besuch bei Finn um einen weiteren Tag aufschieben. Denn allein das schiere Zusammensein mit ihm fiel Daniel nicht leicht. Finn und er waren die zwei verbliebenen Eckpunkte eines Dreiecks, das nicht mehr gezeichnet werden konnte.
    Acht Jahre waren vergangen, seit Finns Mutter Thunderstown verlassen hatte, und in dieser Zeit war Finns Stimme tiefer geworden und er war gewachsen, bis er schließlich sogar Daniel überragte. Doch Männlichkeit war nicht nur eine Frage des Geschlechts und des Alters. Zumindest hatten ihm das sein Vater und Großvater ihr Leben lang eingebläut.
    Er seufzte und verlagerte das Gewicht der Ziege auf seiner Schulter. Der steinige Boden knirschte unter seinen Stiefeln. Jeder Schritt hier oben verlangte äußerste Konzentration, nachdem Generationen gefräßiger Ziegen die Hänge des Merrow Wold in rutschige Geröllhalden verwandelt hatten. Selbst auf den sanfteren Gefällen waren schon Leute zu Tode gekommen; man brauchte lediglich auszurutschen und im nächsten Moment schlitterte und kugelte man einen Abhang hinunter, dessen Oberfläche keinerlei Halt bot, genauso wenig wie irgendetwas Größeres, Solides, das den Sturz abgebremst hätte. Die Unglücklichen wurden zwischen den Kieseln regelrecht zermahlen.
    »Betty«, flüsterte Daniel. Sie ließ nicht nach, die Sehnsucht nach ihr, selbst nach acht Jahren nicht. Sein Großvater hätte ihn dafür verhöhnt. Sein Vater hätte sich in enttäuschter Resignation von ihm abgewandt.
    An jenem Morgen, als sie Thunderstown verlassen hatte, war Betty vor seiner Tür aufgetaucht und hatte ihn gebeten, sich um Finn zu kümmern. »Bitte sorg für ihn. Du bist der Einzige, dem ich ihn anvertrauen kann. Und bald bin ich ja auch wieder da.« Als hätte er sie jemals vergessen können, hatte sie ihre Bitte mit einem Kuss auf seinen Mund besiegelt. Noch heute lag er des Nachts oft wach und dachte an diesen Kuss, an ihre weiche Haut, den Geruch ihres Lippenstifts, die Art, wie sich die Muskeln in ihrem Hals anspannten, als sie sich auf die Zehenspitzen stellte, um sein Gesicht zu erreichen. Manchmal hatte Daniel das Gefühl, dass es außer der Erinnerung an diesen Kuss nichts in seinem Leben gab, woran es sich festzuhalten lohnte.
    Jeder Zeitpunkt, der als bald hätte gelten können, war längst verstrichen. Acht Jahre ohne ein Wort oder ein Zeichen von ihr waren nicht bald. Doch er konnte ihr nicht böse sein, denn dafür hätte er sich erst einmal eingestehen müssen, dass sie mit Absicht nicht geschrieben oder angerufen hatte, und der Gedanke, dass sie ihn so gleichgültig fallen gelassen hatte, war ihm unerträglich. Genauso unerträglich war ihm jedoch auch die andere Möglichkeit, die voraussetzte, dass ihr irgendetwas passiert war, das sie davon abhielt, mit ihm in Kontakt zu treten, und aus diesem Grund vermied er derlei Spekulationen, so gut es ging. Alles, was er sich gestattete, war diese schlichte, schmerzhafte Sehnsucht danach, dass sie eines

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