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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Tages zurückkehren würde.
    Er stapfte weiter bergab und die dürre Erde zerkrümelte unter seinen Sohlen. Wenn man überhaupt das Glück hatte, hier oben auf ein Büschel Gras zu stoßen, dann ließ es sich meistens mit dem leichtesten Zupfen entwurzeln, so mager war der Boden auf dem Merrow Wold. Der Geruch nach Ziegenfell und -kot war allgegenwärtig in der trockenen Luft, ansonsten aber gab es kaum Hinweise auf die Kreaturen, die die Schuld an der Zerstörung dieser Landschaft trugen. Auf den anderen Bergen waren allerorts Spuren ihrer Anwesenheit zu finden: Hufabdrücke im festgebackenen Schlamm oder nackte Baumstämme, hell und zart, die Rinde abgeknabbert. Hier oben gab es weder Schlamm noch Bäume. Die Ziegen hatten den Merrow Wold in eine Ödnis verwandelt – und sich damit nahezu unaufspürbar gemacht.
    Daniels Großvater war der Meinung gewesen, dass Gott am fünften Tag alle Landtiere mit Ausnahme der Ziege geschaffen hatte. Das habe er dem Teufel überlassen, der sie nach seinem eigenen gierigen Bilde schuf. Als Gott sah, wie die Ziegen sich über die Apfelbäume im Garten Eden hermachten, versah er sie mit knotigen, strickartigen Schwänzen, damit sie sich im Unterholz verfingen. Der Teufel war erzürnt, die Ziegen selbst aber waren erleichtert, denn Gott hatte sie von der Versuchung erlöst. Das konnte der Teufel nicht ertragen. Er biss den Tieren die langen Schwänze ab und leckte ihnen die Augen aus den Höhlen, um sie genüsslich zu verspeisen, und als er fertig war, gab er ihnen seine eigenen Augen, auf dass sie niemals den Unterschied zwischen Gier und Mäßigung erkennen sollten.
    Daniels Vater, Pfarrer Fossiter, hatte diese Geschichte mehr als nur einmal von der Kanzel der Sankt-Erasmus-Kirche herab erzählt. Sollte irgendein Gemeindemitglied noch an ihrer Wahrheit zweifeln, musste er sich nur ansehen, wie die langen Zähne der Ziegen die Bäume marterten. Neue Schösslinge zu pflanzen war angesichts des rauen Wetters, dem die Berge ausgesetzt waren, vergeblich. Die Sonne allein konnte für einen Trieb, der nach Wasser lechzte, den sicheren Tod bedeuten. Die Bäume, die hier oben überlebten, wuchsen dicht über den Boden geneigt, die Äste ausgestreckt, als flehten sie um Erbarmen. Sie fristeten ein hartes Dasein, auch ohne die Ziegen, die ihnen noch das letzte bisschen der spärlichen Rinde abnagten, mit der sie sich zu schützen versuchten. Daniel hatte es sich zur Aufgabe gemacht, diese Schösslinge, wann immer er auf einen stieß, zu verteidigen, und errichtete Zäune aus Stacheldraht um die jungen Bäume. Doch die Ziegen kamen trotzdem. Er fand Blutspuren am Stacheldraht, wo die Tiere daran gekaut hatten, ohne auf die Schmerzen zu achten, die ihnen das bereitete.
    Einmal hatte er eine alte Ziege tot aufgefunden, den Kiefer noch um den Draht geschlossen, der Bart rötlich braun verschmiert vom Blut ihrer zerfetzten Zunge. Im Schatten des Baumes hatte ihr dralles kleines Zicklein geschlummert. Es war auf den Rumpf seiner Mutter gestiegen und hatte ihren Hals als Leiter benutzt, um über den Zaun zu klettern und dort so gierig an der jungen Pflanze zu knabbern, dass sie nur mehr an einen umgeknickten Strohhalm erinnerte. Ein solches Tier verdiente es nicht, mit einer schnellen Kugel zwischen die Augen getötet zu werden. Ein solches Tier verdiente es, zu leiden und mit aufgeschlitztem Bauch über seine Taten nachzusinnen. Aber Daniel war schwach. Das hatten sein Vater und Großvater ihm seit jeher vorgeworfen und in diesem Moment hatte er sich eingestehen müssen, dass sie richtiglagen. Er hatte dem Zicklein die Barmherzigkeit zuteilwerden lassen, die es dem Baum gegenüber nicht gezeigt hatte, und es mit einem kurzen Druck auf den Abzug getötet.
    Daniel liebte die Bäume. Ihre Blüten im Frühling waren so seidig und duftend wie Rosenblätter. Und wenn der Wind sie löste, tanzten sie durch die Luft und erinnerten ihn an jenen Tag, an dem Betty und er Seite an Seite in einer wirbelnden Wolke aus diesen Blütenblättern gestanden hatten und zwei völlig symmetrische Exemplare direkt auf Bettys Nase gelandet waren, wie die Flügel eines Schmetterlings.
    Daniel schnaubte und spuckte einen Klumpen Schleim aus.
    Er hatte getan, worum sie ihn gebeten hatte, und sich um Finn gekümmert, obwohl der Junge so eigenartig war, dass Daniel manchmal fürchtete, seine eigene Seele dadurch in Gefahr zu bringen. Er hoffte, dass es Betty etwas bedeutete, falls sie eines Tages zurückkam und sah, dass er

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