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Der Mann, der den Regen träumt

Der Mann, der den Regen träumt

Titel: Der Mann, der den Regen träumt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Al Shaw
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Größe eines jungen Stiers. Doch es hatte einen feingliedrigeren Körper und bewegte sich so leichtfüßig wie ein Reh. Seine Hörner waren ein Wunderwerk, gräulich weiß und schillernd wie geschliffener Feuerstein. Sein Fell war von indigoblauen und stahlgrauen Strähnen durchzogen, sodass die Schattenpartien in düsterem Violett schimmerten und das Tier wie von einer strahlenden Aura umgeben schien.
    Wer diese Ziege erschieße, ermahnte ihn sein Großvater immer wieder mit blankem Zorn in der Stimme, würde einen Fluch über seine ganze Familie bringen.
    Sein Vater hatte ihn dazu erzogen, immer auf die Älteren zu hören. Und so gab sich Daniel nach dessen Tod redlich Mühe, sich dem Lebensstil anzupassen, den sein Großvater ihm aufzwang. Doch sein Vater war ebenfalls eine starke Persönlichkeit gewesen. Daniel fürchtete Gott, auch wenn er nicht immer an ihn glaubte. Manchmal, so gestand er sich ein, brachte ihn diese Furcht beinahe um den Verstand.
    Als Halbwüchsiger stahl er sich oft heimlich, wenn er sich sicher war, dass sein Großvater es nicht bemerken würde, fort zur Sankt-Erasmus-Kirche. Dort saß er dann in der Stille des riesigen Kirchenschiffs und starrte so lange zu den schwarzen Schatten unter der gewölbten Decke auf, bis eine schreckliche Verzweiflung ihn erfüllte, so nackt und trostlos wie die Landschaft auf dem Merrow Wold. In diesen Momenten entsagte er all den Dingen, zu denen sein Großvater ihn ermutigte, dem Trinken, dem Raufen und dem Fluchen.
    Schließlich, als er neunzehn war, stand Daniel schluchzend am Grab seines Großvaters, auch wenn jede zweite Träne aus Erleichterung darüber floss, dass er nun endlich die Gelegenheit haben würde, ganz in Ruhe die Scherben der zwei vorhergehenden Generationen aufzukehren und sich darüber klar zu werden, wie er beiden Männern zugleich ein würdiger Nachkomme sein konnte. Es sollte sich als schwer zu lösendes Rätsel erweisen.
    In der Nacht vor der Beerdigung seines Großvaters hatte Daniel ein so blutiges Steak verschlungen, dass es beinahe noch roh war, nur um dann, nach dem Begräbnis, wieder zum Vegetarismus seiner Kindheit zurückzukehren. Er hatte das Fleisch zum Gedenken an seinen Großvater gegessen und außerdem, weil er um die Seele des toten Mannes fürchtete. Rückblickend hatte er nie verstanden, wie sein Großvater angesichts der Qualen, die ihn im Fegefeuer erwarteten, so gleichgültig sein konnte. »Daran glaubst du nur«, hatte sein Großvater ihm mit einem Augenzwinkern erklärt, »weil du dich für was Besonderes hältst. Aber sieh dir nur mal die Ziegen an. Die halten sich auch für was Besonderes, aber wir Jäger wissen, dass das nicht stimmt. Die folgen bloß ihren Instinkten. Haben keinerlei Kontrolle über das, was sie tun und lassen. Und wenn du meinst, dass das für uns nicht ganz genauso gilt, verdammt noch mal, dann … tja, dann bist du wirklich ein Idiot zu glauben, dass auf Leute wie mich ein Bett in der Hölle wartet.«
    * * *
    Daniel näherte sich dem Fossiter-Gehöft. Es war ein längliches, aus derben Holzbalken errichtetes Gebäude, das mehr an eine Festhalle aus alten Zeiten denn an ein friedvolles Zuhause erinnerte. Ein stabiler Zaun markierte die Grenzen des Grundstücks, an dessen gegenüberliegendem Ende ein Nebengebäude, eine Werkstatt und ein ehemaliger Stall standen. Obwohl Daniel nach dem Tod seines Vaters hier gelebt hatte, war er auf diesem Hof, in dem so viele seiner Ahnen zur Welt gekommen und gestorben waren, nie wirklich zu Hause gewesen, denn seine Kindheit hatte er im Pfarrhaus verbracht. Ein paar glückliche Jahre lang hatte er das Gehöft sogar leer stehen und vor sich hinrotten lassen. Das waren die Jahre gewesen, in denen er mit Betty in der Candle Street gewohnt hatte.
    Er hatte sie eines Tages auf dem Devil’s Diadem getroffen, als er gerade mit seinem Jagdgewehr hinter einem Busch kauerte. Diese Art der Jagd, ohne die Eile, ein Tier zu erlegen, war ein genauso beruhigender Zeitvertreib wie die langen Stunden im Gebet, zu denen sein Vater ihn immer angehalten hatte. Das Devil’s Diadem, so hoch oben und so weit abseits aller Pfade, war ein gottverlassener Ort. Noch nie war er zwischen den knorrigen Bäumen und aufragenden Felsbrocken hier oben einem anderen Menschen begegnet. Und so hätte er der Frau, die plötzlich auf der Lichtung auftauchte, an deren Rand er auf der Lauer lag, um ein Haar eine Kugel zwischen die Augen gejagt, so wie es sein Plan gewesen wäre, hätte sie vier

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